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Er sah mich jetzt wirklich sehr stählern an, und ich hatte plötzlich ein komisches Gefühl in den Kniekehlen.

»Sie versuchen mit einer gewissen Kleinlichkeit«, sagte er, »immer wieder daran vorbeizusehen, was für ein gewaltiger Akt in der deutschen Volkwerdung sich heute vollzieht.« (Ich höre ihn noch heute

»Volkwerdung« sagen!) »Sie klammern sich an jede kleine Ausschreitung und an jede juristische Spitzfindigkeit, um daran herumzukritteln und zu mäkeln. Sie sind sich, fürchte ich, nicht ganz bewußt, daß Leute wie Sie heute eine latente Gefahr für den Staat bilden, und daß der Staat das Recht und die Pflicht hat, daraus seine Konsequenzen zu ziehen – zum mindesten dann, wenn einer von Ihnen sich soweit vorwagt, sich offen zu widersetzen.«

So sprach er, besonnen und langsam, und im Stil eines BGB–Kommentars. Dazu blickte er mir stahlhart in die Augen.

»Wenn wir in Drohungen sprechen wollen«, sagte ich, »warum dann nicht ganz offen? Beabsichtigen Sie also, mich bei der Gestapo als Staatsfeind anzuzeigen?«

Hier etwa begannen von Hagen und Hirsch zu lachen, mit einem Versuch, nun denn doch alles ins Scherzhafte zu ziehen. Aber diesmal machte ihnen Holz einen Strich durch die Rechnung. Er sagte leise und gezielt (und jetzt zum erstenmal merkte ich mit einer gewissen ganz neuen Befriedigung, wie bis aufs Blut gereizt er war):

»Ich gestehe, daß ich mir seit einiger Zeit überlege, ob das nicht meine Pflicht ist.«

»Ach«, sagte ich. Ich mußte erst einen Augenblick die vielen Geschmäcker durchkosten, die einen Augenblick alle durcheinander auf meiner Zunge entstanden: ein wenig Schreck, und ein wenig Bewunderung dafür, wie weit er ging, und ein wenig schlechter Geschmack wegen der »Pflicht«, und ein wenig Befriedigung, wie weit ich ihn gebracht hatte, und eine ganz neue, kühle Einsicht: So ist jetzt also das Leben, und dies genau ist die Art, wie es sich verändert hat – und auch ein bißchen Angst und schnelles Überschlagen, was er eigentlich wirklich alles von mir zu erzählen wußte, wenn er Ernst machte. Dann sagte ich: »Ich gestehe, daß es mir nicht für den Ernst Ihrer Absichten zu sprechen scheint, wenn Sie sich das schon seit einiger Zeit überlegen, nur mit dem Ergebnis, mir dann Ihre Überlegungen mitzuteilen.«

»Sagen Sie das nicht«, sagte er still. Es waren nun offenbar alle Trümpfe ausgespielt, und wenn wir uns noch weiter hätten steigern wollen, hätten wir zu Tätlichkeiten übergehen müssen. Das Ganze spielte sich aber im Sitzen ab, wir rauchten Zigaretten dabei, und außerdem mischten sich nun die andern ein und begütigten vorwurfsvoll nach allen Seiten.

Sonderbarerweise setzten wir nachher noch einige Stunden lang still und erbittert die politische Debatte fort. Aber die »Arbeitsgemeinschaft« war trotzdem damit aufgeflogen. Stillschweigend sahen wir von allen weiteren Zusammenkünften ab.

Hirsch verabschiedete sich im September von mir, um nach Paris zu gehen. Brock und Holz waren damals schon meinem Gesichtskreis entschwunden. Nur gerüchtweise hörte ich später noch ab und zu von ihrer Karriere. Hessel ging erst im nächsten Jahr endgültig fort, nach Amerika. Aber der Kreis war zerstoben.

Übrigens war ich noch ein paar Tage lang gespannt darauf, ob Holz nun wirklich die Gestapo gegen mich in Gang setzen würde. Allmählich merkte ich, daß er es offenbar nicht getan hatte. Eigentlich anständig von ihm!

31

Nein, es war nichts mit dem Rückzug ins Private. Wohin immer man sich zurückzog – überall fand man gerade das wieder vor, wovor man hatte fliehen wollen. Ich lernte, daß die Nazi–Revolution die alte Trennung zwischen Politik und Privatleben aufgehoben hatte, und daß es unmöglich war, sie einfach als »politisches Ereignis« zu behandeln. Sie ereignete sich nicht nur in der politischen Sphäre, sondern genau ebenso in jedem privaten Leben; sie wirkte wie ein Giftgas, das durch alle Wände dringt. Wenn man diesem Giftgas wirklich entgehen wollte, gab es nur eins: physische Entfernung; Emigration; Abschied von dem Lande, zu dem man nach Geburt, Sprache, Erziehung gehörte, und von allen patriotischen Bindungen.

In diesem Sommer 1933 schickte ich mich an, auch diesen Abschied zu nehmen. Ich war nun an Abschied im großen und kleinen bereits gewöhnt, ich hatte meine Freunde verloren, ich hatte Leute, mit denen ich harmlos verkehrte, sich in virtuelle Mörder verwandeln sehen oder in Feinde, die mich der Gestapo ausliefern wollten, ich hatte die Atmosphärilien des täglichen Lebens spurlos entweichen gefühlt, festgegründete Institutionen wie die preußische Justiz waren vor meinen Augen versunken, die Welt der Bücher und der Diskussionen hatte sich aufgelöst, Ansichten, Meinungen, Gedankengebäude hatten sich verbraucht wie nie zuvor, und die so sicheren und vernünftigen Lebenspläne und –aussichten, die mich noch vor ein paar Monaten begleitet hatten, wo waren sie?

Das Abenteuer hatte begonnen. Schon hatte sich das Grundgefühl des Lebens für mich verändert.

Nicht nur der Schmerz, auch die Narkose und der Rausch des Abschieds hatten sich eingestellt: Ich fühlte mich nicht mehr auf festem Boden stehend, sondern im leeren Raum schwebend und schwimmend, eigentümlich getragen und vogelfrei. Schon machten neue Verluste und Abschiede kaum mehr Schmerz; eher ein Gefühl von »Laß fahren dahin« oder »Wohlan, auch dies kannst du entbehren –«, und ich fühlte, wie ich zwar immer ärmer, aber auch immer leichter wurde. Dennoch war dieser Abschied – der innere Abschied vom eigenen Land – noch immer schwer, mühsam und schmerzlich. Er vollzog sich stockend und unter Rückfällen; manchmal glaubte ich, ich würde nicht die Kraft haben, ihn wirklich zu vollziehen.

Wieder erzähle ich nicht mein zufälliges Einzelerlebnis, sondern ein Erlebnis vieler Tausender, wenn ich darstelle, wie es mir damit ging.

Gewiß: Im März und April, während sich vor meinen Augen der Sturz in den Dreck abspielte, begleitet von patriotischem Jubel und »nationalem« Triumphgebrüll, hatte ich bereits in wütenden Ausbrüchen erklärt, ich wolle auswandern, mit »diesem Land« nichts mehr zu tun haben, ich wolle lieber einen Zigarettenladen in Chicago aufmachen als in Deutschland Staatssekretär werden, usw. Aber das waren Ausbrüche, und es war wenig Überlegung und wenig Realität dahinter. Etwas ganz anderes war es, jetzt, in der luftleeren, fröstelnden Kühle dieser Abschiedsmonate, die Trennung von meinem Land wirklich und im Ernst ins Auge zu fassen.

Nun war ich gewiß kein deutscher Nationalist. Der Sportclub–Nationalismus, wie er im Weltkriege geherrscht hatte und heute die Geistesnahrung der Nazis ist, die gierig–kindische Freude daran, das eigene Land auf der Landkarte als großen und immer größeren Farbklecks dargestellt zu sehen, das Triumphgefühl über »Siege«, das Vergnügen an der Demütigung und Unterwerfung anderer, das genießerische Auskosten der Furcht, die man erweckt, das bombastische nationale Eigenlob im

»Meistersinger«–Stil, das onanistische Getue um »deutsches« Denken, »deutsches« Fühlen,

»deutsche« Treue, ein »deutscher« Mann, »sei deutsch!« – das alles war mir seit langem nur widerlich und abstoßend, ich hatte nichts davon aufzuopfern. Das hinderte mich indessen nicht, ein ziemlich guter Deutscher zu sein, und ich wurde mir dessen oft genug bewußt – und sei es nur in der Scham über die Ausartungen des deutschen Nationalismus. Wie die meisten Angehörigen einer Nation, fühlte ich mich beschämt, wenn Landsleute von mir, oder gar mein Land im Ganzen, eine schlechte Figur machten; getroffen von den gelegentlichen Beleidigungen, die die Nationalisten anderer Länder zuzeiten Deutschland in Wort oder Tat zufügten; und stolz auf gelegentliches unerwartetes Lob meines Landes, und auf die schönen Züge, die die deutsche Geschichte und der deutsche Charakter hier und da aufweisen. Mit einem Wort, ich gehörte zu meinem Volk, wie man zu seiner Familie gehört: selbst mehr als andere bereit zu jeder Kritik, nicht immer auf dem freundlichsten Fuße mit allen ihren Mitgliedern, und ganz gewiß nicht gewillt, mein ganzes Leben auf sie zu stellen und »meine Familie über alles« zu rufen; aber doch schließlich zugehörig, und im Ernst diese Zugehörigkeit nicht verleugnend. Diese Zugehörigkeit aufzugeben, sich ganz abzuwenden, die Heimat als Feindesland empfinden zu lernen, war in keinem Fall eine Kleinigkeit.