Выбрать главу

Adolf Hitlers. Und würde sich nicht – so fragte man manchmal mit leiser Hoffnung – »draußen«

vielleicht hier und da sogar wieder ein Stück Deutschland bilden?

32

Ja, man setzte damals in Deutschland ein wenig vage Hoffnungen auf die Emigration. Sie hatten nicht allzuviel Fundierung; aber da es im Reich so offenbar gar nichts mehr zu hoffen gab, und da es schwer ist, ohne Hoffnung zu leben, so hoffte man eben auf das Draußen.

Die eine Hoffnung – eine »Hoffnung« freilich, die noch vor wenigen Monaten allgemein eine Furcht gewesen wäre, und von der noch jetzt viele nicht wußten ob sie sie Hoffnung oder Furcht nennen sollten – galt »dem Ausland« schlechthin: »das Ausland«, das heißt in Deutschland Frankreich und England. Konnten Frankreich und England dem, was jetzt in Deutschland geschah, lange zusehen?

Mußte nicht die humanitäre Linke in beiden Ländern mit Entsetzen die Aufrichtung einer barbarischen Tyrannis in ihrer Nachbarschaft sehen – und die nationalistische Rechte mit Besorgnis das Aufschießen einer Kriegsgesinnung, die sich nicht einmal versteckte, und die vom ersten Tage an kaum verhüllte Aufrüstung? Mußten nicht diese Länder, ganz gleich ob Links oder Rechts in ihnen regierte, eines sehr nahen Tages die Geduld verlieren und ihre damals noch unvergleichlich überlegenen Machtmittel einsetzen, um den Spuk in einer Woche zu beenden? Wenn die

Staatsmänner dort nicht geradezu mit Blindheit geschlagen waren, war etwas anderes eigentlich gar nicht möglich. Man konnte doch beim besten Willen nicht erwarten, daß sie geduldig zusehen würden, wie hier ganz offen ein Messer für ihre Länder geschliffen wurde – und sich durch ein paar

»Friedensreden« beruhigen lassen, von denen jedes Schulkind in Deutschland wußte, wie sie gemeint waren.

Inzwischen aber mochte dort in Frankreich und England eine deutsche intellektuelle politische Emigration, von vernünftigen Staatsmännern bewußt gepflegt und begünstigt, die Kader für die Organisation einer wirklich effektiven deutschen Republik bilden, die aus den Fehlern der ersten gelernt hätte. Vielleicht würde dann alles nachträglich wie ein Spuk aussehen, wie ein reinigendes Gewitter, wie das rasche und entschiedene Aufschneiden eines Geschwürs. Man würde noch einmal, ein bißchen klüger, mit ein bißchen weniger Vorausbelastungen, dort beginnen können, wo man 1919 – nicht begonnen hatte.

Dies waren so die Hoffnungen. Man hatte freilich wenig Anhaltspunkte für sie, außer etwa, daß es wünschenswert und vernünftig so gewesen wäre. Diese Hoffnungen – und dazu das allmählich in mir überhandnehmende Gefühl, daß ohnehin jetzt alles unberechenbar geworden sei und daß es nichts gäbe als das Vertrauen auf den Augenblick – ersetzten bei mir zugleich alle überlegten Pläne für eine wirkliche Auswanderung. Ich würde eben, so dachte ich mir, einfach wegfahren – wohin? Nach Paris selbstverständlich! –, mir eine Weile, solange es noch ging, 200 Mark monatlich nachschicken lassen, und im übrigen sehen. Es würden sich schon Aufgaben für mich finden. War etwa Mangel an Aufgaben?

In der Naivität dieses Plans drückte sich zugleich etwas von meiner persönlichen Lebenssituation aus: der Situation eines jungen Menschen, der bisher als Haussohn gelebt hatte und ohnehin fällig war, nun endlich einmal »in die Welt« zu gehen. Daß dies »In die Welt gehen« in diesem Falle gleichbedeutend war mit einem Weg ins Exil und daß es ein Abenteuer mit lauter Unbekannten war, focht mich verhältnismäßig wenig an. Eine gewisse betäubte Verzweiflung (»Schlimmer kann es nicht werden«) und eine gewisse jugendliche Abenteuerlust wirkten sehr seltsam zusammen, um mir meinen Entschluß leicht zu machen; nicht zu vergessen den Umstand, daß ich, wie alle Deutschen meiner Generation, von meinen zeitgeschichtlichen Erfahrungen her die Unsicherheit und Unberechenbarkeit aller Dinge tief im Gefühl hatte. Der Vorsichtige, so empfinden wir alle, riskiert in Wahrheit genau so viel wie der Kühne; er verzichtet nur obendrein auf den Rausch der Kühnheit.

Übrigens habe ich in der Tat bis heute nichts erlebt, was diesen Satz nicht bestätigt hätte.

Und so erklärte ich also eines Tages, als meine Ausbildungszeit am Kammergericht beendet war, meinem Vater, ich wolle nun »fortgehen«; ich sähe nicht, was ich hier noch solle; insbesondere schiene es mir unmöglich und sinnlos, unter den jetzigen Umständen ein deutscher Richter oder Verwaltungsbeamter zu werden. Ich wolle hinaus, nach Paris einstweilen. Und er möge mir seinen Segen dazu geben, und, so lange es ginge, 200 Mark im Monat.

Es war fast überraschend, wie schwachen Widerstand mein Vater leistete. Im März hatte er pathetische Vorschläge ähnlicher Art noch mit dem Lächeln der stillsten Überlegenheit zu den Akten gelegt. Inzwischen war er sehr alt geworden. Er schlief nachts nicht. Das Trommeln und Alarmblasen von einer nahen SS–Kaserne hielt ihn wach, aber noch mehr vielleicht die Gedanken.

Das Verschwinden und Versinken alles dessen, wofür und womit er gelebt hat, ist für einen alten Mann schwerer zu ertragen als für einen jungen. Für mich war ein Abschied, auch der radikalste, noch zugleich ein neuer Start; für ihn hatte der Abschied Endgültigkeit. Sein beherrschendes Gefühl wurde: Ich habe umsonst gelebt. Es gab da gewisse Gesetzgebungswerke auf seinem

Verwaltungsgebiet, an denen er mitgearbeitet hatte, gewichtige, kühn–besonnene geistige Leistungen, die Frucht einiger Jahrzehnte Erfahrung und einiger Jahre inständigen, fast künstlerischen Abwägens und Ausfeilens. Sie waren mit einem Federstrich außer Kraft gesetzt worden; es war nicht einmal ein großes Ereignis gewesen. Aber nicht nur das: Die Basis, auf der so etwas gebaut oder ersetzt werden konnte, war weggeschwemmt; die ganze rechtsstaatliche Tradition, an der Generationen von Leuten, wie mein Vater einer war, gebaut und gearbeitet hatten und die endgültig gefestigt und unzerstörbar geschienen hatte, war über Nacht dahin. Es war nicht nur Niederlage, womit das Leben meines Vaters – ein strenges, gezügeltes, unablässig bemühtes, im ganzen höchst erfolgreiches Leben – abschloß: Es war Katastrophe. Was er triumphieren sah, waren nicht seine Gegner – das hätte er mit Weisheit hingenommen –, sondern Barbaren, die nie auch nur als Gegner in Frage gekommen waren. Ich sah meinen Vater damals mitunter lange an seinem Schreibtisch sitzen und, ohne die Blätter, die vor ihm lagen, zu berühren, starr in die Luft blicken, mit einem leeren, trostlosen Blick, als blickte er über eine weite Fläche voller Zerstörung hinweg.

»Und was denkst du draußen zu tun?« fragte er. Es steckte noch seine alte Skepsis in der Frage und sein alter Juristenblick auf den wesentlichen Punkt, aber sie klang so müde, daß ich am Ton schon merkte, es war nur der Form halber gefragt und er würde fast jede Antwort hinnehmen.

Ich sagte irgend etwas und faßte meine Planlosigkeit in so gutklingende Worte wie ich konnte.

»Na«, sagte er, und mit einem kleinen, traurig–verständnisvollen Lächeln: »So sehr vielversprechend klingt das eigentlich nicht, wie?«

»Ja«, sagte ich, »aber was soll ich mir hier versprechen?«

»Ich fürchte nur«, sagte er, und er begann sich nun doch ein wenig zu erwärmen und fester Stellung zu nehmen, als er zuerst vielleicht vorgehabt hatte, »daß du dir Illusionen machst. Sie haben dort draußen nicht auf uns gewartet. Emigranten sind für jedes Land eine Last, und es ist nicht angenehm zu fühlen, daß man lästig ist. Es ist ein großer Unterschied, ob man in ein Land kommt wie eine Art Botschafter, einer, der etwas zu tun und zu bringen hat, oder als ein Geschlagener, der Unterschlupf sucht. Ein großer Unterschied.«

»Haben wir nicht etwas zu bringen?« sagte ich. »Wenn wirklich die ganze deutsche Intelligenz, die Literatur, die Wissenschaft auswanderte – welches Land könnte sich nicht dazu gratulieren, das alles so einfach geschenkt zu bekommen?«