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Er hob einen Arm hoch und ließ ihn müde wieder sinken. »Konkursmasse«, sagte er. »Man fällt im Kurse, wenn man flieht. Sie dir die Russen an. Das war auch eine Elite, was da auswanderte. Jetzt sind die Heerführer und Staatsräte und Schriftsteller froh, wenn man sie hier oder in Paris Kellner oder Chauffeure spielen läßt.«

»Vielleicht sind sie lieber jetzt Kellner in Paris als Staatsräte in Moskau«, sagte ich.

»Vielleicht«, sagte mein Vater. »Vielleicht auch nicht. So etwas sagt sich sehr schön, vorher. Nachher und in Wirklichkeit sieht es oft anders aus. Hunger und Elend sind immer halb so schlimm, solange man satt zu essen hat.«

»Und soll ich aus Angst vor Hunger und Elend jetzt hier Nazi werden?« sagte ich.

»Nein«, sagte er, »das sollst du nicht. Das sollst du gewiß nicht.«

»Und glaubst du, ich könnte hier auch nur Amtsgerichtsrat werden, ohne Nazi zu werden?«

»Amtsgerichtsrat wohl nicht«, sagte mein Vater. »Wenigstens einstweilen nicht. Was die Zukunft bringt – wer will das sagen. Aber ich dächte, du könntest vielleicht noch Rechtsanwalt werden. Und fängst du nicht gerade an, mit Schreiberei Geld zu verdienen?«

Das stimmte. Eine Zeitung, ein großes und angesehenes Blatt, in dem ich hier und da kleine Sachen veröffentlicht hatte, hatte mir geschrieben, mich eingeladen, von sich aus eine engere Verbindung vorgeschlagen – es gab damals in den ehemals demokratischen großen Blättern eine seltsame kleine Zwischenkonjunktur für junge Leute, die keine Nazis, aber auch mit keiner »linken«

Vergangenheit belastet, arisch und möglichst unbeschriebene Blätter waren. Ich hatte nicht widerstanden. Ich war hingegangen und hatte zu meiner erstaunten Freude eine Redaktion gefunden, die ganz und gar nicht Nazi war, die genau so dachte und fühlte wie ich. Es war eine Wonne, in den Redaktionsstuben zu sitzen, Informationen zu tauschen und zu lästern; es war ein angenehmes Gefühl, Artikel zu diktieren und zu sehen, wie sie nach hinten gereicht wurden, zum Botenstand, um in die Setzerei zu gehen. Man fühlte sich manchmal fast wie in einem Verschwörernest. Und seltsam und beunruhigend war nur, daß das Blatt doch am nächsten Morgen, wenn es herauskam, trotz aller anspielungsgespickten Artikelchen, die man geschrieben hatte und die in der Redaktion so berauscht belacht worden waren, ganz wie ein verständig–überzeugtes Naziblatt wirkte.

»Ich glaube, gerade für die Zeitung werde ich zunächst vielleicht von draußen arbeiten können«, sagte ich.

»Das läßt sich hören«, sagte mein Vater. »Hast du schon mit deinen Redakteuren darüber gesprochen?«

Ich mußte verneinen.

»Ich denke«, sagte mein Vater, »wir lassen die Sache heute ruhen und überlegen es uns beide noch ein paar Tage. Du mußt übrigens nicht glauben, daß es für Mama und mich leicht wäre, dich gehen zu lassen – und so ganz ins Ungewisse noch dazu. Übrigens würde ich in jedem Fall erwarten, daß du erst noch dein Examen machst. Schon aus Ordnungssinn.«

Und hierauf freilich bestand er. Nach einigen Tagen legte er selbst mir einen Plan vor.

»Du wirst jetzt ordentlich dein Assessor–Examen machen, wie es vorgesehen ist. Es geht nicht, daß du nach zwanzig Jahren Ausbildung einfach davonläufst und alles liegen läßt, gerade vor dem Abschluß. Das sind etwa fünf Monate. Wenn du danach die Dinge noch ebenso siehst, habe ich mir überlegt, daß du ja sowieso noch ein halbes Jahr gut hast, um deinen Doktor zu machen. Deine Doktorarbeit kannst du schließlich so gut in Paris wie hier schreiben. Du kannst dir also Urlaub nehmen, und ein halbes Jahr irgendwo hinfahren, sagen wir also nach Paris meinetwegen, und an deiner Doktorarbeit arbeiten und dich bei dieser Gelegenheit umsehen. Wenn du dann siehst, daß du fort Fuß fassen kannst, gut. Wenn nicht, ist hier nichts für dich verbaut und du kannst immer noch zurück. Das wird etwa in einem Jahr sein, und wer will überhaupt heute sagen, was in einem Jahr sein wird.«

Bei diesem Plan blieb es, nach einigem Hin und Her. Ich fand es zwar sehr überflüssig, noch mein Assessorexamen zu machen, sah aber ein, daß ich es meinem Vater sozusagen schuldig war. Meine einzige Angst war, daß, noch während ich hier sei, in den nächsten fünf Monaten der Krieg stattfinden könnte, der unvermeidliche Präventivkrieg der Westmächte gegen Hitler, und daß ich gezwungen sein würde, ihn auf der falschen Seite mitzumachen.

»Auf der falschen Seite?« sagte mein Vater. »Glaubst du vielleicht, die französische Seite sei die richtige für dich?«

»Ja«, sagte ich entschlossen, »das glaube ich in diesem Fall. Wie die Dinge jetzt liegen, kann Deutschland nur vom Ausland aus befreit werden.«

»Ach Gott«, sagte mein Vater bitter, »vom Ausland aus befreit werden! Das glaubst du wahrscheinlich selber nicht im Ernst. Übrigens kann niemand gegen seinen Willen befreit werden. So etwas gibt es nicht. Wenn die Deutschen die Freiheit haben wollten, müßten sie sich schon selbst darum bemühen.«

»Aber siehst du denn irgendeinen Weg dazu, so gefesselt wie wir hier sind?«

»Nein.«

»Also bleibt doch nur –«

»Das ›also‹ ist unlogisch«, sagte mein Vater. »Weil ein Weg versperrt ist, ist noch nicht gesagt, daß es einen andern gibt. Wir sollten uns nicht mit Illusionen zu trösten versuchen. Deutschland hat es nach 1918 mit Illusionen versucht, und das Ergebnis sind die Nazis. Wenn die deutschen Liberalen sich heute wieder in Illusionen flüchten, wird das Ergebnis die Fremdherrschaft sein.«

»Vielleicht wäre sie besser als die Naziherrschaft.«

»Ich weiß es nicht«, sagte mein Vater. »Das entferntere Übel sieht immer kleiner aus als das gegenwärtige. Es braucht darum nicht kleiner zu sein. Ich für meine Person würde doch meine Hand nicht rühren mögen, um die Fremdherrschaft herbeizuführen.«

»Aber dann siehst du gar kein Ziel und keine Hoffnung?«

»Kaum«, sagte mein Vater. »Einstweilen kaum.«

Und in seine Augen trat wieder jener Ausdruck von Leere und starrer gefußter Trostlosigkeit, als sähe er über weite Flächen voll Zerstörung hin.

Öfters bekam mein Vater Besuch von Beamten seiner ehemaligen Behörde. Er war seit mehreren Jahren pensioniert, aber noch bestanden die persönlichen Beziehungen, und mein Vater hatte es genossen, noch immer gelegentlich zu hören, wie diese oder jene Angelegenheit sich

weiterentwickelt hatte, die Karriere dieses oder jenen Assessors oder jungen Regierungsrats zu verfolgen, noch teilzunehmen und unformell den einen oder andern Rat oder Tip zu geben. Auch jetzt kamen diese Besucher noch, aber die Unterhaltungen waren einförmig und trübe geworden. Mein Vater fragte etwa nach diesem und jenem Beamten, er nannte die Namen, und sein Besucher antwortete lakonisch: »§ 4«, oder »§ 6«.

Das waren Paragraphen eines Gesetzes, das kürzlich herausgekommen war; es nannte sich »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, und seine einzelnen Vorschriften besagten, daß Beamte in untergeordnete Stellen versetzt werden konnten, zwangspensioniert, mit einem Übergangsgeld entlassen oder auch ohne Gehalt in Pension ausgestoßen werden. Jeder Paragraph enthielt ein Schicksal. »§ 4« war ein zerschmetternder Schlag. »§ 6« war Deklassierung und Demütigung. In allen Beamtenkreisen beherrschten diese Ziffern damals die Gespräche.

Eines Tages kam der Präsident der Behörde. Er war ein viel jüngerer Mann als mein Vater, und die beiden hatten manchen amtlichen Zusammenstoß gehabt. Der Präsident war ein Sozialdemokrat gewesen; mein Vater hatte viel weiter »rechts« gestanden, und mehr als einmal waren die Gegensätze aufeinandergeprallt, wobei es die Dinge nicht leichter gemacht hatte, daß der Jüngere die höhere Machtstellung hatte. Dennoch hatten die beiden Männer sich geachtet, und die gesellschaftliche Beziehung war nie ganz abgerissen.

Diesmal war der Besuch quälend. Der Präsident, ein Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, sah so alt aus wie mein siebzigjähriger Vater. Er war völlig weiß geworden. Mein Vater erzählte nachher, daß er oft im Gespräch den Faden verloren hatte, nicht geantwortet und abwesend vor sich niedergeblickt hatte, um dann zusammenhanglos zu sagen: »Es ist grauenvoll, Herr Kollege. Es ist einfach grauenvoll.« Er kam, um sich zu verabschieden. Er verließ Berlin, um »sich irgendwo auf dem Lande zu verkriechen.« Er kam aus dem Konzentrationslager.