Выбрать главу

Im übrigen war er »§ 4«.

Mein Vater selbst, wie gesagt, war lange pensioniert, er besaß keine Amtsmacht mehr, und er hätte, selbst wenn er gewollt hätte, den Nazis durch seine Amtsführung nicht mehr schaden können. So schien es, als stände er außerhalb der Feuerlinie. Aber eines Tages kam auch zu ihm ein amtliches Schreiben, und darin lag ein ausführlicher Fragebogen. »Laut § x des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums werden Sie ersucht, die untenstehenden Fragen ausführlich und

wahrheitsgemäß zu beantworten ... Nichtbeantwortung oder unzutreffende Beantwortung zieht gemäß § y Verlust des Ruhegehalts nach sich ...«

Es waren eine Menge Fragen. Mein Vater hatte anzugeben, welchen politischen Parteien, welchen Verbänden und Organisationen er in seinem Leben angehört hatte, er hatte seine nationalen Verdienste darzulegen, dies zu erklären und jenes zu entschuldigen, und zum Schluß,

vorgedrucktermaßen, zu versichern, daß er »rückhaltlos hinter der Regierung der nationalen Erhebung stehe«. Kurz und gut, nachdem er 45 Jahre lang dem Staat gedient hatte, hatte er nun, um seine verdiente Pension wiederzuerhalten, sich noch einmal dafür zu demütigen.

Mein Vater blickte lange auf den Fragebogen und schwieg.

Am nächsten Tag sah ich ihn an seinem Schreibtisch sitzen, den Fragebogen vor sich; er starrte darüber hinweg.

»Wirst du ihn beantworten?« fragte ich.

Mein Vater blickte auf den Fragebogen, schnitt eine Grimasse und schwieg lange. Dann sagte er: »Du meinst, ich sollte es nicht tun?«

Schweigen.

»Ich weiß nicht recht, wovon du und deine Mutter leben sollten«, sagte mein Vater dann.

»Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte er nach einer Weile. »Ich weiß nicht einmal«, und er versuchte zu lächeln, »wovon du nach Paris fahren willst und deine Doktorarbeit verfassen.«

Ich schwieg beklommen. Dann schob mein Vater den Fragebogen auf die Seite, aber er legte ihn nicht fort.

Der Bogen lag noch mehrere Tage auf dem Schreibtisch, unausgefüllt. Eines Nachmittags aber sah ich meinen Vater, als ich in sein Zimmer kam, am Schreibtisch sitzen und mit langsamer Schrift, wie ein Schüler, der einen Schulaufsatz schreibt, den Bogen ausfüllen. Eine halbe Stunde später ging er selbst fort und trug den Brief in den Briefkasten, ehe er sich eines anderen besinnen konnte. Er zeigte keine äußere Veränderung, er sprach nicht erregter als sonst, aber es war dennoch zuviel für ihn gewesen. Bei Leuten, die sich nicht in ihren Gesten und Worten sehr zu beherrschen gewöhnt sind, übernimmt meist irgendein körperliches Organ die Belastung der Seele, wenn sie zu stark wird, und reproduziert sie als Krankheit. Manche bekommen Herzattacken in solchen Fällen. Bei meinem Vater war das Ausdrucksorgan der Magen. Mein Vater hatte sich kaum wieder an seinen

Schreibtisch gesetzt, als er aufsprang und sich krampfhaft zu übergeben begann. Zwei oder drei Tage lang gelang es ihm nicht, etwas zu sich zu nehmen oder bei sich zu behalten. Es war er Anfang eines Hungerstreiks seiner Physis, an dem er zwei Jahre später elend und schrecklich starb.

33

Je länger dieser Sommer 1933 dauerte, umso unwirklicher wurde alles. Die Dinge verloren mehr und mehr ihr volles Gewicht, verwandelten sich in skurrile Träume, ich lebte allmählich wie unter der angenehmen, erschlaffenden und jeder Verantwortung enthebenden Betäubung von ein paar Fiebergraden.

Jetzt also meldete ich mich zum Assessorexamen, dem großen Abschlußexamen eines deutschen Juristen, das die Berechtigung zum Richteramt, zur höheren Verwaltungskarriere, zur Anwaltschaft usw. gibt. Ich tat es ohne jede Absicht, von diesen Berechtigungen je Gebrauch zu machen. Nichts war mir gleichgültiger als die Frage, ob ich das Examen bestand oder nicht. Ein Examen ist doch normalerweise eine etwas aufregende und anspannende Angelegenheit, nicht wahr?, man spricht sogar von Examensfieber. Ich spürte nichts davon. Das Fieber war völlig paralysiert von einem größeren anderen Fieber.

Ich saß im »Rechtsarchiv«, einer Bibliothek im Dachgeschoß eines großen Bürohauses, in luftigen Atelierräumen mit Glaswänden, gerade unter dem blauen windigen Sommerhimmel, und schrieb meine Examensarbeiten, leichtfertig und unbekümmert wie man einen Brief schreibt. Es war schlechthin nicht mehr möglich, sie ernstzunehmen. Sie setzten, mit ihren Aufgaben und Fragestellungen, eine Welt voraus, die es gar nicht mehr gab. Nicht nur das BGB, sogar die Weimarer Reichsverfassung spielte in einer von ihnen noch eine Rolle; ich las in den obsolet gewordenen, gestern noch vielgenannten Kommentaren zu ihren begrabenen Artikeln, und statt mir die Sätze herauszupicken, auf die es für meine Arbeit ankam, geriet ich erst ins Lesen und dann ins Träumen.

Von unten tönte quäkige Marschmusik. Wenn man sich aus dem Fenster beugte, sah man

braungekleidete Heersäulen sich durch die Straße wälzen, unterbrochen von Hakenkreuzfahnen; und wo die Fahnen jeweils vorbeikamen, hoben die Leute auf den Bürgersteigen rechts und links die Arme hoch (wir hatten gelernt, daß, wer es nicht tat, verprügelt wurde). Was war nun wieder los? Ach so, sie marschierten zum Lustgarten, Ley war vom Genfer Internationalen Arbeitsamt abgereist, weil er sich über irgend etwas geärgert hatte, und nun zog Berlins SA zum Lustgarten, um dort mit Gesang und Geheule den Drachen endgültig zu erlegen.

Täglich sah man marschieren und hörte man singen, und man mußte sehr auf seiner Hut sein, daß man jeweils rechtzeitig in einem Hausflur verschwand, wenn man das Fahnengrüßen vermeiden wollte. Wir lebten in einer Art Kriegszustand, einem komischen Krieg freilich, in dem alle Siege durch Gesang und Marschieren errungen wurden. Die SA, SS, Hitlerjugend, Arbeitsfront oder was auch immer, marschierte durch die Straßen, sang »Siehst du im Osten das Morgenrot?« oder »Märkische Heide«, »trat« irgendwo »an«, hörte eine Rede, rief vieltausendstimmig grollend »Heil«, und wieder war ein Feind erschlagen. Für eine bestimmte Art von Deutschen war das einfach das Paradies, und es herrschte die entschiedenste August–1914–Stimmung unter ihnen. Alte Damen mit

Einkaufstaschen sah ich stehen und mit leuchtenden Augen so einem marschierenden und markig singenden braunen Heerwurm nachblicken. »Man sieht doch, man sieht es doch geradezu, nicht wahr?«, sagten sie, »wie es wieder aufwärts geht auf allen Gebieten.«

Manchmal wurden auch bestimmtere Siege erfochten. Eines Morgens wurde die »Künstlersiedlung«

in Wilmersdorf, wo viele linke Literaten gewohnt hatten und einige noch wohnten, von starken Polizeikräften umzingelt und besetzt. Sieg! Reiche Kriegsbeute wurde gemacht, Dutzende feindlicher Fahnen fielen in die Hände unserer Truppen, kiloweise wurde staatsfeindliche Literatur, von Karl Marx bis Heinrich Mann, auf die Wagen geladen, und auch die Gefangenenzahlen konnten sich sehen lassen. Tatsächlich war dies der Stil, in dem die Zeitungen über das Ereignis berichteten; es war so etwas wie die Schlacht bei Tannenberg. Oder eines anderen Tages wurden »schlagartig« um 12 Uhr mittags alle Züge und Autos im Reich angehalten und durchsucht. Sieg! Was man da alles zu Tage förderte! Von Juwelen und Devisen bis zu »Propagandamaterial staatsfeindlicher Kuriere«I. Es lohnte geradezu eine »spontane Großkundgebung« im Lustgarten.

Ende Juni meldeten die Zeitungen übereinstimmend, in großen Schlagzeilen: »Feindliche Flugzeuge über Berlin!« Niemand glaubte es, nicht einmal die Nazis, aber niemand wunderte sich auch so recht mehr darüber. Dies war eben der Stil geworden. Eine spontane Großkundgebung folgte:

»Deutschland braucht Luftfreiheit.« Märsche und Fahnen, Horst–Wessel–Lied, Heil. Um dieselbe Zeit etwa setzte der Kultusminister die Kirchenverwaltung ab, ernannte den nazistischen Militärpfarrer Müller zum »Reichsbischof«, und in einer »Großkundgebung« im Sportpalast wurde der Sieg des neuen, »deutschen« Christentums gefeiert, mit Adolf Hitler als deutschem Heiland, Fahnen, Horst–