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Wessel–Lied und »Heil«. Zum Schluß aber wurde diesmal, offenbar zu Ehren der bestatteten Institution oder aus irgendwelchen anderen feinen Geschmacksgründen, gesungen: »Ein feste Burg ist unser Gott.« Dann gab es »Kirchenwahlen«. Die Nazis kommandierten ihre ganze Armee von Namenschristen an die Urne, und am nächsten Tage meldeten die Zeitungen Siege. Überwältigender Wahlsieg der Deutschen Christen! Am Abend, als ich durch die Stadt fuhr, wehten von allen Kirchtürmen Hakenkreuzfahnen.

Von dem Ernst des Widerstandes, den die Nazis hier treffen sollten, merkte man damals, im ersten Augenblick, in außerkirchlichen Kreisen nichts. Ich hatte nicht ohne seltsame Gefühle mich zum ersten Mal an einer kirchlichen Verwaltungshandlung beteiligt und einen Zettel in die Urne gelegt, auf dem die feierlichen Worte »Bekennende Kirche« standen. Ich fühlte mich nicht sehr als Bekenner. Ich hatte die Kirche all die Jahre lang »geehrt – doch ohn Verlangen«. Freilich war ich sehr entschieden dafür, daß sie geehrt würde, auch ohne Verlangen, und ich war angeekelt von dem blasphemisch–maskenballhaften Treiben der »Deutschen Christen« – im übrigen tief und im voraus durchdrungen von der Aussichtslosigkeit irgendwelchen Widerstandes gerade hier. Um des Anstandes willen, so etwa dachte ich, mochte man jetzt zu einer geschlagenen und geschändeten Kirche sich denn doch auch einmal »bekennen«. Und ich fühlte ein gewisses Verständnis für das Diktum eines sympathischen und rotweinliebenden konservativen älteren Herrn, den ich in diesen Tagen sagen hörte: »Um Gottes willen, nun muß man sogar noch um seinen Glauben kämpfen, den man gar nicht mal hat.«

Die Gefühle überhaupt wurden matter im Laufe des Sommers, die Spannung ließ nach, und selbst den Ekel empfand man nur noch abgeschwächt, durch eine Wolke von halber Betäubung hindurch.

Für viele, die zu bleiben hatten, fing damals die Gewöhnung an, mit allen ihren Gefahren. Was mich betraf, ich fühlte mich schon nicht mehr eigentlich hier. Ein paar Monate noch, und ich würde nach Paris gehen – an die Möglichkeit einer Rückkehr von dort dachte ich gar nicht mehr. Das hier war Leben auf Abbruch, es zählte nicht mehr.

Es gab freilich auch nicht viel mehr zu leben. Meine Freunde waren nachgerade alle weg – oder sie waren nicht mehr meine Freunde. Manchmal kamen Karten mit ausländischen Marken. Hin und wieder schrieb Frank Landau einen Brief; diese Briefe verdüsterten sich allmählich. Erst klangen sie entschieden und hoffnungsvoll, dann wurden sie ein wenig kärglich und vieldeutig, und einmal, Mitte August, kam plötzlich ein ganzes Paket von einem Brief, zwölf oder vierzehn Seiten, vor sich hin geschrieben wie in einem Selbstgespräch, müde und verzagt im Ton und überaus ratlos; es war alles nichts, mit Ellen war alles äußerst schief gegangen, sie würden sich wohl trennen, es gab auch keine Aussichten in der Schweiz, nichts zu sehen, was nach dem Doktor werden sollte. Auch war Hanni nicht zu vergessen, auch unsere Gespräche nicht, es gab nichts, um alles Zurückgelassene zu ersetzen, keine Anknüpfung an das Vergangene, keine wirkliche Lebensluft, keine Substanz, von der man innerlich zehren konnte. »Ich schreibe das alles nicht, um einen Rat von dir zu bekommen, denn ich weiß, es gibt keinen ...«

Etwas später kam Ellen plötzlich zurück, einfach zurück, es war nun also aus, und sie streckte die Waffen. Sie schrieb mir, und zwei oder dreimal besuchte ich sie in Wannsee, saß mit komischen Gefühlen in dem Garten des Hauses, wo ich den 1. April verbracht hatte, und sollte ihr alles erklären, trösten, Rat geben. Sie war in einer traurigen Lage, verwirrt und aus dem Gleichgewicht gebracht: Sie liebte Frank, aber sie glaubte nicht mehr, daß sie mit ihm leben könne, es war alles so schrecklich übereilt gewesen und nun vielleicht schon für immer verdorben; wenn man Zeit hätte, wenn man alles sich langsam entwickeln lassen könnte, sehen, wohin es lief! Aber das war das Schreckliche, daß jetzt alles immer sofort entschieden werden mußte, man stand an lauter Kreuzwegen, hier und jetzt entschied sich alles, die Lebensstraßen liefen ins Unabsehbare auseinander. Ihre Familie rüstete jetzt zur Auswanderung nach Amerika. Sollte sie mit? Aber das hieß Frank nie wiedersehen.

Sollte sie zurück nach Zürich? Aber das hieß endgültig an ihn gebunden sein; und der Sommer war nicht ermutigend gewesen. Andererseits, sie liebte ihn doch. »Sie kennen ihn. Sagen Sie mir, wie er wirklich ist. Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

Anfang April hatte ich Hanni gesprochen, die damals ein paar Tage im verdunkelten Zimmer gelegen hatte, nichts gegessen und tagelang geweint hatte. Später waren wir von Konsulat zu Konsulat gelaufen, hatten Briefe an irgendwelche tschechischen Ämter geschrieben und Unterhaltungen auf Polizeirevieren gehabt. Es half alles nichts, die Frage ihrer Staatsangehörigkeit war nicht zu entwirren. Hanni war in Deutschland gefangen.

Seltsames Leben; ein wenig war es wie die Konkursverwalterschaft eines anderen Lebens. Und zwischenein schrieb ich meine Examensarbeiten für ein Examen, das mich nichts anging und auch schon ein wenig zu einem andern Leben gehörte – meinem vergangenen. Und gelegentlich schrieb ich kleine Zeitungsartikel, Sachen, in die ich soviel bittere Witzigkeit legte wie mir zu Gebote stand –

und staunte, wenn ich sie ein paar Tage später in diesem leicht irre wirkenden, besonnen redenden Zwangs–Naziblatt las, das noch vor ein paar Monaten eine weltberühmte Zeitung gewesen war. Wie stolz wäre ich damals gewesen, dazuzugehören! Jetzt ging mich auch das eigentlich nichts an, es geschah auf Abbruch und galt nicht.

Von allen Menschen, mit denen ich zu tun hatte, war, seltsam, nur das Mädchen Charlie übriggeblieben – gerade diese kleine Faschingsliebe. Sie blieb. Sie ging als roter Faden durch das graue Gewebe dieses unwirklichen Sommers: eine leise quälende, ein wenig verfehlte, nicht ganz glückliche Liebesgeschichte – immerhin eine Liebesgeschichte, nicht ganz ohne ein wenig Süßigkeit darin.

Sie war ein gutes, einfaches kleines berlinisches Mädchen, und in glücklichen Zeiten hätte unsere Geschichte eine einfache, banale und süße kleine Geschichte sein können. Nun band uns das Unglück fester zusammen als gut war und verlangte mehr von uns als wir einander geben konnten: nämlich, genau genommen, Entschädigung für alles, für den Verlust einer Welt oder für tägliches, quälendes und würgendes Elend; und dazu reichte es bei keinem von uns. Ich konnte ihr kaum von dem reden, was damals mit mir vorging; war doch ihr eigenes Unglück soviel realer, einfacher, drückender, überzeugender. Sie war eine Jüdin, sie war verfolgt, sie mußte täglich um ihr Weiterleben bangen und um das ihrer Eltern und ihrer großen Familie, an der sie herzlich Anteil nahm, in der soviel Schreckliches geschah jetzt, und von der es mir immer so schwergefallen war, alle Personen richtig auseinanderzuhalten. Wie viele junge Juden, sah sie in dem, was geschah –

sehr begreiflicherweise – kaum mehr als das, was den Juden geschah; und sie reagierte darauf ganz unschuldig so, daß sie von heute auf morgen Zionistin, jüdische Nationalistin wurde. Ein verbreiteter Vorgang, den ich mit Verständnis, aber auch mit ein wenig Trauer beobachtete: Es lag soviel Einlenken in die Absichten der Nazis darin, soviel schwachherzige Hinnahme der feindlichen Fragestellung. Aber hätte ich mit Charlie darüber diskutieren wollen, ich hätte ihr nur den einzigen Trost geraubt. »Aber was sollen wir denn machen, Peter«, sagte sie mit traurigen großen Augen, als ich einmal ganz vorsichtig meine Skepsis andeutete. Sie lernte Hebräisch und dachte an Palästina.

Aber noch war sie nicht dort. Noch ging sie ins Geschäft – sie durfte wieder, wer weiß zwar wie lange

– und half ihre Familie ernähren und sorgte sich rührend um ihren Vater und um ihre Verwandten und arbeitete und litt. Und magerte ab und weinte viel, und ließ sich wohl einmal trösten und lachte einen Abend wieder und war reizend albern und ausgelassen, aber es hielt nicht vor. Im August wurde sie ernsthaft krank, und man nahm ihr den Blinddarm heraus. Es war seltsamerweise schon das zweite Mal in diesem Jahr, daß ich eine Blinddarmentzündung aller Wahrscheinlichkeit nach aus seelischen Ursachen entstehen sah.