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Und zwischen alledem brachten wir also eine kleine Liebesgeschichte unter, so gut es ging. Wir gingen ins Kino und gingen Wein trinken und suchten lustig und verliebt zu sein, wie es sich gehört, und spät nachts trennten wir uns, und ich fuhr mit letzten U–Bahnzügen aus ihrem entfernten Stadtteil nach Haus und saß übermüdet, etwas leeren Kopfs, auf nächtlichen menschenleeren Untergrundbahnhöfen, wo nur die Rolltreppen noch lebendig waren.

Sonntags fuhren wir oft hinaus und liefen durch Wälder oder lagen am Wasser herum oder auf irgendwelchen Waldlichtungen. Die Umgebung Berlins ist schön, von einer gewissen ungezähmten Urweltlichkeit. Verläßt man die vielbegangenen Ausflugswege, so kann man noch im Umkreis der Vorortbahn in Gegenden kommen, die unbetreten wirken, großartig einsam und eintönig, und hinreißend traurig. Wir suchten sie und wanderten zwischen düstergrünen Kiefern lange Schneisen entlang, oder lagen unter einem fast drohend blauen Himmel auf einer Waldwiese. Der Himmel war schön und vollkommen in Ordnung, und so waren die großen überhohen und dichtstehenden Räume, das Gras, das Moos, die Ameisen, die vielfältig summenden Insekten. Es hatte alles etwas unendlich, tödlich Tröstliches. Nur wir hätten nicht im Bild sein dürfen. Ohne uns wäre es noch schöner gewesen. Wir störten.

Das Wetter war in diesem Sommer wundervoll, die Sonne war unermüdlich, und ein spöttischer Gott ließ gerade 1933 in Deutschland einen Weinjahrgang reifen, von dem die Kenner noch lange singen und sagen werden.

34

Plötzlich schrieb Teddy aus Paris. Unglaublich, sie schrieb, sie würde kommen – bald, nächste Woche. Mein Herz fing an zu schlagen wie eine Pauke. Sie wolle sehen, ihre Mutter herüberzuholen, schrieb sie, und überhaupt wolle sie sich alles doch einmal von nah ansehen. Sie sei ein bißchen ängstlich, aber auf vieles freue sie sich auch sehr, und sie hoffe, mich oft zu sehen.

Während ich den Brief in meine Brusttasche schob, hatte ich ein Gefühl, als kehre mit ungeheurem ameisenhaften Gekribbel das Leben in mich zurück. Ich merkte auf einmal, daß ich die ganze Zeit starr und empfindungslos, tot gewesen war. Ich lief in der Wohnung herum und pfiff und rauchte eine Zigarette nach der andern und wußte nicht, wohin mit mir. In dem Zustand, in dem ich nachgerade war, war es fast unerträglich, sich auf einmal so zu freuen.

Am nächsten Tag hatte die Zeitung die Überschrift: »Gemeinschaftslager für Referendare«. Alle Referendare, die im Assessorexamen standen, würden nach Beendigung ihrer häuslichen

Examensarbeiten in Gemeinschaftslagern versammelt werden, wo sie unter Wehrsport und gesundem Gemeinschaftsleben weltanschaulich geschult und für ihre kommenden großen Aufgaben als deutsche Volksrichter erzogen werden würden. Der erste Schub werde in den nächsten Tagen seine Gestellungsbefehle erhalten. Und dann ein redaktioneller Artikel mit Preis und Heil und »jeder junge deutsche Jurist wird dem preußischen Justizminister dankbar sein ...«

Dies war das erste Mal, glaube ich, daß ich einen richtigen Tobsuchtsanfall hatte. Der Anlaß mag recht unbedeutend scheinen, aber die Reaktionen von uns schwachen und gebrechlichen Menschen richten sich ja nicht immer streng nach der Größe und allgemeinen Bedeutung des Anlasses. Ich schlug mit den Fäusten gegen die Wände wie ein Eingesperrter und schrie und schluchzte und verfluchte Gott und die Welt, meinen Vater, mich, das deutsche Reich, die Zeitung und all und jeden.

Ich war gerade dabei, meine letzte häusliche Examensarbeit abzugeben, und hatte also jede Aussicht, zum ersten Schub zu gehören. Ich sah rot vor Augen und benahm mich wie ein Irrsinniger.

Und dann sackte ich zusammen und schrieb einen kurzen und verzweifelten Brief an Teddy, sie möchte schnell kommen, damit wir uns wenigstens noch einen oder zwei Tage lang sehen könnten.

Und gab am nächsten oder übernächsten Tag gehorsam und brav und mit einem Gefühl

vollkommener Verprügeltheit und Zerbrochenheit meine letzte häusliche Arbeit ab.

Aber dann, Lob und Preis dem preußischen Amtsschimmel, geschah nichts. Meine Arbeiten mochten in irgendwelchen Büros herumliegen; bis sie dort durchgeschleust waren, bis mein Name in irgendwelchen Listen angehakt und in irgendwelche anderen Listen übertragen war, bis die Schübe für das Lager zusammengestellt, die Gestellungsbefehle gedruckt, ausgeschrieben, expediert waren, vergingen jedesmal, wie wundersam, kostbare Tage. Nachdem ein paar Tage vergangen waren, ohne daß etwas geschah, begann ich mir beruhigt den Geschäftsgang in einer preußischen Behörde zu vergegenwärtigen und mir klarzumachen, daß Hoffnung bestand: Hoffnung auf zwei, drei, selbst vier freie Wochen. Jeden Tag konnten sie freilich zu Ende sein, aber sie brauchten es nicht. Jeden Tag blickte ich auf die Post und stellte erst mit ängstlichem Aufatmen, dann mit ruhigerer Zuversicht, und schließlich, je kritischer es wurde, mit immer vertrauensvollerer, frevelhafter Selbstgewißheit fest, daß wieder noch kein amtliches Schreiben gekommen war. Es konnte nachgerade jeden Tag kommen, aber es kam nicht. Und Teddy kam.

Sie kam und war auf einmal da, als wäre sie nie weg gewesen, und brachte Paris mit, Pariser Zigaretten, Pariser Magazine, Pariser Neuigkeiten und, unnachweisbar und unwiderstehlich wie ein Parfum, die Luft von Paris, eine Luft, die man atmen konnte – und gierig atmete. In Paris war man in jenem Sommer, als die Uniformen in Deutschland so ekelhaft ernsthaft Mode wurden, darauf gekommen, für die Frauen eine Mode à la uniforme zu kreieren – und so trug Teddy ein blaues Ulanenjäckchen mit Einsatz und blanken Knöpfen; unvorstellbar, sie kam aus einer Welt, wo die Frauen so etwas zum Spaß trugen und keiner etwas Böses dabei dachte! Sie war voller Geschichten.

Gerade waren sie sechs Wochen durch ganz Frankreich gefahren, Pariser Studenten aller Länder, Schweden und Ungarn, Polen und Österreicher, Deutsche und Italiener, Tschechen und Spanier, und hatten in heimatlichen Kostümen Volkstänze ihrer Länder getanzt und Volkslieder ihrer Länder gesungen, und überall waren sie wie Fürsten aufgenommen worden, mit Bravo und Bis und Verbrüderungsreden – in Lyon hatte ihnen Herriot persönlich eine Rede gehalten, daß sie alle fast geweint hatten, und dann hatte ihnen die Stadt ein Essen vorgesetzt, daß sie alle noch zwei Tage lang einen verdorbenen Magen davon gehabt hatten ... Ich saß dabei und ließ mir alles erzählen und fragte gierig nach mehr. Das gab es noch! Das alles existierte noch – keine Tagereise weit von hier.

Und Teddy saß hier neben mir, wirklich neben mir auf einem Stuhl, ganz selbstverständlich umgeben von alledem.

Ich hatte ihr diesmal nichts dafür vorzuführen, gar nichts. Sonst, wenn sie kam, hatte doch auch Berlin noch einiges gehabt, was man »bieten« konnte: einen interessanten Film, über den gerade alles sprach; ein paar große Konzerte; ein Kabarett oder ein kleines Theater mit »Atmosphäre«.

Nichts von alledem gab es diesmal. Es war Teddy geradezu anzusehen, wie sie nach Luft schnappte.

Ganz harmlos fragte sie noch nach Lokalen und Kabaretts, die längst geschlossen waren, nach Schauspielern, die es längst nicht mehr gab. Sie hatte natürlich vieles in den Zeitungen gelesen, aber nun, in der Wirklichkeit, war doch alles ganz anders – weniger sensationell vielleicht, aber viel schwerer zu verstehen und viel schwerer zu ertragen. Die Hakenkreuzfahnen überall, die braunen Uniformen, denen man nirgends auskam: im Autobus, im Café, auf der Straße, im Tiergarten –

überall machte es sich breit wie eine Besatzungsarmee. Das ständige Trommeln, die Marschmusik Tag und Nacht – komisch, Teddy horchte noch auf und fragte, was denn jetzt los sei. Sie wußte noch nicht, daß man eher Anlaß zum Fragen gehabt hätte, wenn es einmal keine Marschmusik gegeben hätte. Die roten Plakate mit den Hinrichtungs–Bekanntmachungen an den Säulen, fast jeden Morgen, neben den Plakaten der Kinos und der Sommerrestaurants; ich sah sie schon gar nicht mehr, aber Teddy schauderte noch plötzlich zusammen, wenn sie harmlos die Säule studierte. Auf einem Spaziergang zog ich sie plötzlich in einen Hausflur. Sie begriff es gar nicht und fragte ganz erschreckt: »Was ist denn los?«