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Das ging so, mit Unterbrechungen, ein gutes halbes Jahr lang; dann begann es abzuklingen, nachdem es schon lange zuvor sinnlos geworden war. Das Schicksal der Revolution war im Grunde besiegelt – ich wußte es damals allerdings natürlich nicht –, als am 24. Dezember die Arbeiter und Matrosen nach siegreicher Straßenschlacht vor dem Schloß sich zerstreuten und nach Hause gingen, um Weihnachten zu feiern. Nach dem Fest gingen sie zwar aufs neue auf den Kriegspfad, aber inzwischen hatte die Regierung bereits hinlängliche Freicorps zusammengezogen. Vierzehn Tage lang gab es in Berlin keine Zeitungen, sondern nur näheres und entfernteres Schießen – und Gerüchte. Dann gab es wieder Zeitungen, die Regierung hatte gesiegt, und einen Tag später kam die Nachricht, daß Liebknecht und Rosa Luxemburg erschossen seien, beide auf der Flucht. Meines Wissens ist dies die Entstehung des »Auf der Flucht Erschießens«, das seither die übliche Umgangsform mit politischen Gegnern östlich des Rheins geworden ist. Damals war man noch so wenig daran gewöhnt, daß viele es sogar wörtlich auffaßten und glaubten: Zivilisierte Zeiten!

So war die Entscheidung gegen die Revolution gefallen, aber keineswegs trat Ruhe ein; im Gegenteil, die schwersten Straßenkämpfe kamen in Berlin erst im März (und in München im April), als es eigentlich nur noch, sozusagen, um die Bestattung des Leichnams der Revolution ging. In Berlin brachen sie aus, als die »Volksmarinedivision«, die ursprüngliche Truppe der Revolution, formell und mit schlichtem Abschied von Noske aufgelöst wurde: Sie ließ sich nicht auflösen, sie wehrte sich, die Arbeiter des Berliner Nordostens fielen ihr bei, und acht Tage lang kämpften die »irregeleiteten Massen«, die es nicht verstehen konnten, daß ihre eigene Regierung wieder ihre Feinde gegen sie führte, einen verzweifelten, aussichtslosen und furchtbar erbitterten Kampf. Der Ausgang stand von vornherein fest, und die Rache der Sieger war schrecklich. Es ist bemerkenswert, daß damals, im Frühjahr 1919, als die linke Revolution sich vergebens bemühte, Form zu gewinnen, die spätere Nazirevolution, nur ohne Hitler, bereits fertig und mächtig dastand: Die Freicorps, von denen sich damals Ebert und Noske retten ließen, waren bis zur personellen Identität, und erst recht in Ansichten, Gehaben und Kampfstil einfach dasselbe wie die späteren Nazi–Sturmtruppen. Sie hatten bereits das »Erschießen auf der Flucht« erfunden, sie waren schon ein gutes Stück weit in die Folterwissenschaft eingedrungen, und sie hatten bereits eine großzügige Art, unbedeutendere Kampfgegner einfach ohne viel Fragen und ohne Unterschied an die Wand zu stellen, die den 30.

Juni 1934 vorausnimmt. Es fehlte nur noch die Theorie zur Praxis: Die lieferte später Hitler.

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Wenn ich es recht bedenke, muß ich sagen, daß auch die Hitlerjugend damals schon fast fertig dastand. In unserer Klasse zum Beispiel hatten wir damals einen Club gebildet, der sich »Rennbund Altpreußen« nannte und das Motto führte: Anti–Spartakus, Sport und Politik! Die Politik bestand darin, daß wir einige Unglückliche, die erklärten, sie seien für die Revolution, gelegentlich auf dem Schulweg verprügelten. Im übrigen war die Hauptbetätigung der Sport: Wir organisierten Wettläufe auf Schulhöfen oder in öffentlichen Anlagen, hatten dabei das Gefühl, uns überaus

antispartakistisch zu betätigen, kamen uns sehr wichtig und patriotisch vor und rannten fürs Vaterland. Was war das eigentlich anderes als die spätere Hitlerjugend? Wiederum fehlten nur noch ein paar Züge, die Hitlers persönliche Neigungen später hinzugefügt haben, zum Beispiel der Antisemitismus. Bei uns rannten unsere jüdischen Mitschüler noch genau so antispartakistisch und patriotisch mit wie alle anderen; ein Jude war sogar unser bester Läufer. Ich kann beeiden, daß sie nichts taten, um die nationale Einigkeit zu unterminieren.

Während der Märzkämpfe 1919 fand die normale Tätigkeit des Rennbunds Altpreußen eine vorübergehende Unterbrechung, weil unsere Sportplätze sich für einige Zeit in Schlachtfelder verwandelten. Unser Stadtviertel rückte in den Mittelpunkt der Straßenkämpfe. Unsere Schule wurde ein Hauptquartier der Regierungstruppen, eine danebenliegende Volksschule, wie symbolisch!, ein Stützpunkt der »Roten«, und tagelang wurde um den Besitz der beiden Gebäude gekämpft. Unser Direktor, der in seiner Amtswohnung geblieben war, wurde totgeschossen, die Hausfassade war, als wir sie wiedersahen, ganz durchlöchert von Einschüssen, und unter meiner Schulbank war noch wochenlang, als die Schule wieder stattfand, ein nicht zu beseitigender riesiger Blutfleck. Wir hatten unprogrammäßige Ferien, wochen– und wochenlang, und wir empfingen während dieser Zeit sozusagen unsere Feuertaufe: Denn wann immer wir nur konnten, drückten wir uns zu Hause davon und suchten die Stellen auf, wo gekämpft wurde, um »etwas zu sehen«.

Viel bekamen wir nicht zu sehen – selbst die Straßenkämpfe zeigten die »moderne Leere des Schlachtfeldes«. Aber umso mehr gab es zu hören: Gegen den Klang von normalen

Maschinengewehren, Feldartillerie oder gar Schützenfeuer waren wir bald ganz abgehärtet.

Aufregend wurde es erst, wenn Minenwerfer und schwere Geschütze herauszuhören waren.

Es wurde ein Sport, in abgesperrte Straßen hineinzukommen, indem man durch Häuser, Höfe und Keller schlich und plötzlich im Rücken der Absperrungstruppen auftauchte, weit hinter den Schildern: »Halt! Wer weitergeht, wird erschossen.« Wir wurden nicht erschossen. Niemand tat uns etwas.

Die Absperrungen funktionierten überhaupt nicht immer besonders gut, und das normale zivile Straßenleben vermischte sich oft mit den Kampfhandlungen auf eine Art, die den Sinn für das Groteske wecken mußte. Ich erinnere mich an einen schönen Sonntag, einen der ersten warmen Sonntage im Jahr, mit Massen von Spaziergängern eine breite Allee entlangwogend; es war überaus friedlich, nicht einmal Schießen irgendwo zu hören. Auf einmal flutete alles Volk rechts und links in die Hauseingänge, Panzerwagen kamen herangerasselt, man hörte draußen furchtbar nahe Detonationen, Maschinengewehre erwachten plötzlich, fünf Minuten lang war die Hölle los – dann rasselten die Wagen weiter und davon, entfernten sich, das Maschinengewehrfeuer starb weg. Wir Jungen wagten uns als erste aus dem Hausflur und sahen ein seltsames Bild; die ganze Allee leergefegt von Menschen, dafür aber vor jedem Haus kleinere und größere Haufen von

Glasscherben: die Fensterscheiben hatten die Erschütterung der nahen Schüsse nicht ausgehalten.

Dann kamen, da nichts mehr geschah, schüchtern die Spaziergänger wieder aus den Hausfluren hervor, und ein paar Minuten später wogte die Straße wieder von frühlingshaft spazierengehendem Volk, als ob nichts geschehen wäre.

Seltsam unwirklich war das alles. Man bekam auch nie eine Erklärung für Einzelheiten. Nie erfuhr ich zum Beispiel, was gerade diese Schießerei bedeutet hatte. Die Zeitungen brachten nichts darüber.

Dagegen erfuhr man aus ihnen, daß gerade an diesem Sonntag, während wir unter dem blauen Frühlingshimmel spazieren gingen, wenige Kilometer entfernt, im Vorort Lichtenberg, mehrere hundert (oder gar tausend? die Zahlenangaben schwankten) gefangene Arbeiter

zusammengetrieben und durch Reihenfeuer »umgelegt« worden waren. Das erschreckte uns. Es war so viel näher und wirklicher als alles, was die Jahre vorher im fernen Frankreich geschehen war.

Da aber nichts darauf erfolgte, niemand von uns einen der Toten gekannt hatte und auch die Zeitungen am nächsten Tage schon wieder anderes zu berichten hatten, wurde der Schrecken auch wieder vergessen. Das Leben ging weiter. Das Jahr rückte vor, in den schönen Sommer hinein. Die Schule fing irgendwann wieder an, und auch der »Rennbund Altpreußen« nahm seine segensreiche und patriotische Tätigkeit wieder auf.