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Seltsamerweise hielt sich die Republik. Seltsamerweise – so muß man wohl sagen angesichts der Tatsache, daß ihre Verteidigung spätestens vom Frühjahr 1919 ab ausschließlich in den Händen ihrer Feinde ruhte; denn damals waren alle militanten revolutionären Organisationen zerschlagen, ihre Führer tot, ihre Mannschaften dezimiert, und nur die »Freicorps« trugen Waffen – die Freicorps, die in Wirklichkeit bereits gute Nazis waren, nur ohne den Namen. Warum stürzten sie ihre schwachen Herren nicht und richteten schon damals ein Drittes Reich auf? Schwer wäre es kaum gewesen.

Ja, warum taten sie es nicht? Warum enttäuschten sie die Hoffnungen, die sicher viele auf sie setzten, nicht nur wir vom »Rennbund Altpreußen«?

Wahrscheinlich aus demselben höchst irrationalen Grunde, aus dem später die Reichswehr die Hoffnungen all der vielen enttäuschte, die in den ersten Jahren des Dritten Reichs dachten, sie würde eines Tages der entsetzlichen Kompromittierung ihrer eigenen Ideale und Ziele durch Hitler ein Ende machen: Weil deutsches Militär keine Zivilcourage hat.

Zivilcourage – also der Mut zum eigenen Entschluß und zur eigenen Verantwortung – ist in Deutschland ohnehin eine rare Tugend, wie schon Bismarck in einem bekannten Ausspruch bemerkt hat. Aber sie verläßt den Deutschen vollkommen, wenn er eine Uniform anzieht. Der deutsche Soldat und Offizier, zweifellos hervorragend tapfer auf dem Schlachtfeld, fast stets auch bereit, auf Befehl der Obrigkeit auf seine zivilen Landsleute zu schießen, wird furchtsam wie ein Hase, wenn er sich gegen diese Obrigkeit stellen soll. Der Gedanke daran zaubert ihm sofort das Schreckbild eines Erschießungspelotons vor Augen, und das lähmt ihn vollkommen. Er fürchtet gewiß nicht den Tod: Aber diese eine bestimmte Todesart fürchtet er, und sie fürchterlich. Dieser Umstand macht jeden Ungehorsams– und Staatsstreichversuch deutschen Militärs ein für allemal unmöglich – mag regieren, wer will.

Das einzige scheinbare Gegenbeispiel ist in Wirklichkeit gerade ein Beispiel für meine Behauptung: Der Kapp–Putsch vom März 1920, der Staatsstreichversuch einiger antirepublikanischer politischer Außenseiter. Obwohl sie einen Teil der republikanischen Heerführung ganz und den Rest halb und halb auf ihrer Seite hatten, obwohl die Administration sofort ihre Schwäche zeigte und keinen eigenen Widerstand wagte, obwohl Leute mit solcher militärischen Werbekraft wie Ludendorff mit von der Partie waren, war es doch schließlich nur ein einziger Truppenteil, die sogenannte Brigade Ehrhardt, die das Unternehmen mitmachte. Alle anderen Freicorps blieben »regierungstreu« – und sorgten dann freilich dafür, daß auch dieser Putschversuch der Rechten mit einer Züchtigung der Linken endete.

Das ist eine trübe Geschichte, und sie ist schnell erzählt. Als die Brigade Ehrhardt eines Sonnabends morgens durch das Brandenburger Tor marschierte, entwich die Regierung und brachte sich in Sicherheit, nachdem sie noch schnell die Arbeiter zum Generalstreik aufgerufen hatte.

Kapp, der Führer des Putschs, rief die nationale Republik unter der schwarzweißroten Fahne aus, die Arbeiter streikten, die Armee blieb »regierungstreu«, die neue Administration kam nicht in Gang, und fünf Tage später dankte Kapp wieder ab.

Die Regierung kam zurück und forderte die Arbeiter auf, wieder an die Arbeit zu gehen. Die aber verlangten jetzt ihren Lohn: Mindestens sollten erst einige gar zu offensichtlich kompromittierte Minister verschwinden, voran der berüchtigte Noske – worauf die Regierung wieder ihre treuen Truppen gegen sie einsetzte; und die leisteten aufs neue großzügige Blutarbeit, namentlich in Westdeutschland, wo es zu richtigen Schlachten kam.

Jahre später hörte ich einen ehemaligen Freicorpsmann davon erzählen, der dabeigewesen war.

Nicht ohne ein gewisses gutmütiges Mitgefühl berichtete er von den Opfern, die damals zu Hunderten gefallen oder »auf der Flucht erschossen« worden waren. »Es war die Blüte der Arbeiterjugend«, sagte er mehrfach gedankenvoll und melancholisch. Dies war offenbar die Formel, unter der er die Ereignisse in seinem Gehirn aufbewahrte. »Tapfere Jungens zum Teil«, fuhr er anerkennend fort. »Nicht wie 1919 in München: Das waren Schlawiner, Juden und Tagediebe, mit denen hatte ich keinen Funken Mitleid. Aber 1920 im Ruhrgebiet, das war wirklich die Blüte der Arbeiterjugend. Um manche hat es mir richtig leidgetan. Aber sie waren so dickköpfig, sie ließen uns gar keine Wahl, wir mußten sie eben erschießen. Wenn wir ihnen eine Chance geben wollten und beim Verhör fragten: Also, ihr seid nur verführt, nicht wahr, dann schrien sie, nein, und nieder mit den Arbeitermördern und Volksverrätern. Na, da half es ja dann nichts, und wir mußten sie eben erschießen, immer dutzendweise. Unser Oberst sagte am Abend, so weh wäre ihm nie ums Herz gewesen. Ja, das war die Blüte der Arbeiterjugend, die da gefallen ist, 1920 im Ruhrgebiet.«

Als diese Dinge geschahen, wußte ich freilich nichts von ihnen. Sie geschahen ja auch fern im Ruhrgebiet; in Berlin ging es weniger dramatisch zu, ja geradezu unblutig und zivil. Nach den wilden Schießereien von 1919 wirkte dieser März 1920 lautlos und unheimlich. Gerade daß nichts geschah, und nur alles Leben stillstand, war das Unheimliche. Eine seltsame Revolution. Ich will erzählen:

An einem Sonnabend geschah es. Mittags im Bäckerladen erzählten sich die Leute, daß jetzt »Der Kaiser wiederkäm«. Nachmittags in der Schule – wir hatten damals oft nachmittags Schule, die Hälfte der Schulgebäude war wegen Kohlenknappheit geschlossen, und je zwei Schulen teilten sich vor– und nachmittags in ein Gebäude – fiel der Unterricht aus, und wir spielten bei schönem Wetter auf dem Schulhof »Rote und Nationale«, wobei die Schwierigkeit darin bestand, daß keiner Roter sein wollte. Alles war durchaus erfreulich, nur einstweilen noch etwas unglaubhaft; es war so plötzlich gekommen, und man wußte keine Einzelheiten.

Man erfuhr auch weiterhin keine, denn bereits am Abend gab es keine Zeitungen, und übrigens, wie sich nachher herausstellte, auch kein Licht. Am nächsten Morgen gab es, zum ersten Mal, auch kein Wasser. Auch die Post bestellte nicht. Es fuhren auch keine Verkehrsmittel. Und die Läden waren geschlossen. Es gab, mit einem Wort, überhaupt nichts.

An einigen Straßenecken in unserer Gegend gab es noch altertümliche Brunnen, die nichts mit den Wasserwerken zu tun hatten. Diese Brunnen erlebten jetzt große Tage: Zu Hunderten standen die Leute vor ihnen Schlange, mit Kannen und Eimern, und holten sich ihre Wasserrationen; ein paar rüstige junge Männer pumpten. Vorsichtig balancierte man nachher mit seinen vollen Eimern durch die Straßen, um nichts von dem kostbaren Naß zu verschütten.

Sonst, wie gesagt, geschah nichts. Es geschah sogar gewissermaßen weniger als nichts, nämlich nicht einmal das, was an jedem gewöhnlichen Tag ohnehin geschieht. Keine Schießereien, keine Demonstrationszüge, keine Aufläufe und Straßendiskussionen. Nichts.

Am Montag fiel auch die Schule wieder aus. Es herrschte immer noch eitel Befriedigung dort, gemischt freilich mit leichter Beklemmung, weil alles gar seltsam vonstatten ging. Unser Turnlehrer, der sehr »national« war (alle Lehrer waren »national«, aber niemand mehr als die Turnlehrer) erklärte zwar mehrfach mit Überzeugung: »Man merkt doch gleich, daß eine ganz andere Hand am Steuer ist«. Aber, um die Wahrheit zu sagen, man merkte überhaupt nichts, und auch er sagte das wohl nur, um sich darüber hinwegzutrösten, daß er überhaupt nichts merkte.

Wir zogen von der Schule aus nach den »Linden«, aus einem dunklen Gefühl heraus, daß man an großen vaterländischen Tagen »Unter den Linden« sein müsse, und auch in der Hoffnung, man werde dort etwas sehen oder etwas erfahren. Aber es war nichts zu sehen und nichts zu erfahren. Ein paar Soldaten standen gelangweilt hinter überflüssigerweise aufgebauten Maschinengewehren herum.

Niemand kam, sie anzugreifen. Alles wirkte eigentümlich sonntäglich, besinnlich und friedlich. Das machte der Generalstreik.