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In den nächsten Tagen wurde es einfach langweilig. Das Anstehen nach Wasser am Brunnen, das zuerst immerhin den Reiz der Neuheit gehabt hatte, wurde bald ebenso lästig wie das

Nichtfunktionieren der WCs, der Mangel irgendwelcher Neuigkeiten oder auch nur Briefe, die Schwierigkeit, Nahrungsmittel zu beschaffen, die abendliche Stockdunkelheit und überhaupt der ganze ewige Übersonntag. Auch geschah nichts national Begeisterndes zum Ausgleich, keine Truppenparaden, keine Aufrufe »An mein Volk«, nichts, gar nichts. (Ja, wenn es das Radio schon gegeben hätte!) Nur einmal erschienen Maueranschläge: »Das Ausland interveniert nicht.« Nicht einmal das also!

Und dann hieß es eines Tages plötzlich wieder, Kapp habe abgedankt. Genaueres erfuhr man nicht, aber da man am nächsten Tag hier und da wieder Schießen hörte, merkte man schon, die gute alte Regierung war wieder da. Irgendwann begann es in den Wasserleitungen wieder zu schnauben und zu sausen. Kurz darauf war wieder Schule. Alles sah dort ein wenig begossen aus. Und dann gab es sogar wieder Zeitungen.

Nach dem Kapp–Putsch erlahmte unter uns Jungen das Interesse an der Tagespolitik allgemein. Alle Richtungen waren jetzt gleichermaßen blamiert, und das ganze Gebiet verlor seinen Reiz. Der

»Rennbund Altpreußen« löste sich auf. Viele von uns suchten neue Interessengebiete:

Markensammeln zum Beispiel, Klavierspielen oder Theater. Nur ein paar blieben der Politik treu, und zwar fiel es mir zum ersten Mal auf, daß das komischerweise mehr die Dummen, Rohen und Unsympathischen waren. Sie traten jetzt in »richtige« Bünde ein, in den Deutschnationalen Jugendverein zum Beispiel oder in den Bismarckbund (die Hitlerjugend gab es noch nicht), und bald zeigten sie in der Schule Schlagringe, Gummiknüppel oder gar »Totschläger« vor, rühmten sich gefährlicher nächtlicher Plakatanklebe– oder Plakatabreißpartien und begannen, einen bestimmten Jargon zu sprechen, der sie von allen anderen unterschied. Auch fingen sie an, sich

unkameradschaftlich gegen die Juden unter uns zu benehmen.

Einen von ihnen sah ich damals, bald nach dem Kapp–Putsch, in einer langweiligen Stunde seltsame Figuren auf sein Heft kritzeln, immer wieder dasselbe: Ein paar Striche, die sich auf überraschende und befriedigende Weise zu einem symmetrischen, kästchenartigen Ornament formten. Ich war gleich in Versuchung, es nachzumachen. »Was ist das?« fragte ich, flüsternd, denn es war in einer, wenn auch langweiligen, Schulstunde. »Antisemitenabzeichen«, flüsterte er im Telegrammstil zurück. »Haben die Ehrhardt–Truppen am Stahlhelm getragen. Bedeutet: Juden raus.

Muß man kennen.« Und er kritzelte geläufig weiter.

Das war meine erste Bekanntschaft mit dem Hakenkreuz. Es war das einzige, was der Kapp–Putsch Bleibendes hinterließ. Man sah es öfter in der nächsten Zeit.

9

Erst zwei Jahre später wurde Politik mit einem Schlage wieder interessant, und zwar dank dem Auftreten eines einzigen Mannes: Walther Rathenau.

Nie vorher und nie nachher hat die deutsche Republik einen Politiker hervorgebracht, der so auf die Phantasie der Massen und der Jugend wirkte. Stresemann und Brüning, die längere Wirkungszeiten hatten und die durch ihre Politik in gewissem Sinne zwei kurze Geschichtsperioden prägten, hatten niemals als Personen dieselbe Magie. Höchstens Hitler kann in einem bestimmten Sinn zum Vergleich herangezogen werden, und auch mit einer Einschränkung: Um ihn ist seit langem soviel bewußt gelenkte Publicity, daß es heute kaum mehr möglich ist, die echte Wirkung der Person von der Mache zu unterscheiden.

Zu Rathenaus Zeiten gab es noch kein politisches Starwesen, und er selbst tat nicht das Geringste, um sich in Szene zu setzen. Er ist das stärkste Beispiel, das ich erlebt habe, für den geheimnisvollen Vorgang, der stattfindet, wenn in der öffentlichen Sphäre »der große Mann« erscheint: ein plötzlicher Kontakt mit der Masse durch alle Winde hindurch; ein allgemeines Wittern und Aufhorchen, eine plötzliche Spannung, ein Interessantwerdendes Uninteressanten; ein »Nicht–um–ihn–

herumkommen«, unvermeidliche leidenschaftliche Parteinahme; aufschießende Legende,

aufschießender Persönlichkeitskult, Liebe, Haß. Das alles unwillkürlich und unvermeidlich, fast unbewußt. Es ist die Wirkung des Magneten in einem Haufen von Eisenspänen – genauso

unvernünftig, genau so unentrinnbar, genau so unerklärlich.

Rathenau wurde Wiederaufbauminister, dann Außenminister – und auf einmal fühlte man, daß Politik wieder stattfand. Wenn er auf eine internationale Konferenz reiste, hatte man zum ersten Mal wieder das Gefühl, daß Deutschland vertreten war. Er schloß ein »Sachlieferungsabkommen« mit Loucheur, er schloß einen Freundschaftsvertrag mit Tschitscherin – und obwohl kaum einer sich vorher unter »Sachlieferungen« irgendetwas hatte vorstellen können, und obwohl der Text des russischen Vertrages mit seiner diplomatischen Formalsprache den wenigsten etwas sagte, redete man über beides erregt in den Lebensmittelläden und vor den Zeitungsständen, und wir Sekundaner boten uns Ohrfeigen an, weil die einen die Verträge »genial« nannten, während die andern von

»jüdischem Volksverrat« sprachen.

Aber es war nicht die Politik allein. Man sah in den illustrierten Zeitungen das Gesicht, wie das aller anderen Politiker, und während man die anderen vergaß, verfolgte einen dies und sah einen an: mit dunklen Augen voller Klugheit und Trauer. Man las seine Reden und man spürte, jenseits des Inhalts, einen unüberhörbaren Ton, in dem Anklage, Forderung und Verheißung war: einen Prophetenton. Viele griffen zu seinen Büchern (auch ich tat es): Und wieder spürte man einen dunkel–pathetischen Appell, etwas zugleich Bezwingendes und Überredendes, Forderndes und Werbendes. Zugleich: In diesem Zugleich lag ihr tiefer Reiz. Sie waren zugleich nüchtern und phantastisch, zugleich desillusionierend und aufrüttelnd, zugleich skeptisch und gläubig. Das kühnste sprachen sie mit der zögerndsten, leisesten Stimme aus.

Rathenau hat seltsamerweise noch nicht die große Biographie gefunden, die er verdient. Er gehört ohne jeden Zweifel zu den fünf, sechs großen Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts. Er war ein aristokratischer Revolutionär, ein idealistischer Wirtschaftsorganisator, als Jude deutscher Patriot, als deutscher Patriot liberaler Weltbürger, und als liberaler Weltbürger wiederum ein Chiliast und strenger Diener des Gesetzes (also, in dem einzigen ernsthaften Sinn: Jude). Er war gebildet genug, um über Bildung, reich genug, um über Reichtum, Weltmann genug, um über die Welt erhaben zu sein. Es war zu spüren, daß er, wäre er nicht deutscher Außenminister von 1922 gewesen, auch ein deutscher Philosoph von 1800, ein internationaler Finanzkönig von 1850, ein großer Rabbi oder ein Anachoret hätte sein können. Er vereinte in sich das Unvereinbare auf eine gefährliche, gerade dieses eine Mal mögliche, etwas beängstigende Weise. Die Synthese eines ganzen Bündels von Kulturen und Ideenströmen war in ihm – nicht: Gedanke; nicht: Tat; aber: Person geworden.

Sieht so ein Massenführer aus? wird man fragen. Seltsamerweise heißt die Antwort: Ja. Die Masse –

womit ich nicht das Proletariat meine, sondern jenes anonyme Kollektivwesen, zu dem wir alle, hoch oder niedrig, immer wieder in gewissen Augenblicken zusammenschießen – die Masse reagiert am stärksten auf den, der ihr am unähnlichsten ist. Normalität, gepaart mit Tüchtigkeit, mag populär machen; aber letzte Liebe und letzter Haß, Vergottung und Verteufelung, gilt nur dem äußerst Abnormalen, der Masse ganz Unerreichbaren, mag er weit über oder weit unter ihr stehen. Wenn irgendetwas, glaube ich dies aus meiner deutschen Erfahrung zu wissen. Rathenau und Hitler sind die beiden Erscheinungen gewesen, die die Phantasie der deutschen Masse aufs äußerste gereizt haben: der eine durch seine unfaßliche Kultur, der andere durch seine unfaßliche Gemeinheit.

Beide, das ist das Entscheidende, kamen aus unzugänglichen Regionen, aus irgendeinem »Jenseits«.