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Maria ist sechs Monate alt geworden und befindet sich im Rechtsmedizinischen Institut.

Die Polizei war inzwischen bei den Eltern. Wie ich erfahren habe, sollen die Beamten die Anwesenden vor die Wahl gestellt haben, dass entweder der ganze Clan jetzt mal verschwindet, damit man die Eltern befragen kann, oder die beiden müssen mit auf die Wache.

Erstaunlicherweise hat sich noch für heute Abend der Vater angekündigt. Er will mit mir alles besprechen.

Mal sehen, was der mir erzählt.

21.30 Uhr

Für heute ist Schluss.

Neue Sachlage: Bei genauerer Betrachtung der Leichenschaupapiere (von denen wir uns Kopien gemacht haben – im Original liegen sie jetzt bei den Behörden) stellt sich heraus, dass der Arzt wohl beides angekreuzt hat: Natürlicher Tod und Nichtnatürlicher Tod, aber das zweite Kreuzchen ist kaum zu erkennen. Angeblich habe er von seiner Praxis aus gerade die Polizei anrufen wollen, aber wir seien ihm zuvorgekommen. Na ja …

Der Vater des Kindes war bei mir, der sah gar nicht italienisch aus. Ein Italiener, man verzeihe mir dieses primitive Vorurteilsdenken, ist klein, hat schwarze Haare; der hier ist aber groß, hat rotblondes Haar und blaue Augen, lediglich sein Gestikulieren und sein Akzent verraten eindeutig die Herkunft.

Ich frage zuerst die notwendigen Daten ab, dann spreche ich ihn auf die Todesumstände an. Er macht eine wegwerfende Handbewegung, er sei ja gar nicht dabei gewesen – seine Frau habe das Kind im Bad auf der Wickelkommode für den Mittagsschlaf vorbereitet und dann ins Bett gelegt. Als er wenig später nach der Kleinen gesehen habe, habe sie leblos im Bettchen gelegen. Er schimpft über deutsche Krankenkassen, die Nachbarn, die Polizei. Ich habe etwas Angst vor dem kommenden Moment, in dem ich ihm sagen muss, dass wir die Polizei verständigt haben. Wird er begreifen, dass wir nicht anders handeln konnten?

Doch! Er sagt: »Habbe korrekt gemacht! Vielleicht hatte de Arzt eine Fehler gemacht!«

Moment mal, der Arzt ist doch erst gekommen, als das Kind schon leblos war. Was ist da los? Ich erkläre ihm nochmals, dass wir so handeln müssen und so weiter. »Jaja, habbe korrekt gemacht.«

Steht der unter Drogen oder unter Schock? Er will den Sarg aussuchen, ganz schnell einen Termin, aber nicht vor Anfang nächster Woche – wegen der Familie, die muss nämlich erst aus Italien kommen. Das ist mir nicht genug, ich will doch wissen, was passiert ist. Einerseits wäre es mir ja lieb, wenn an der ganzen Sache nichts dran ist, andererseits hätten wir uns dann riesig blamiert. Blöde Zwickmühle.

Der Italiener fängt an zu weinen, erzählt mir, dass seine Frau jetzt gleich von einem anderen Arzt behandelt werde, sie habe einen Nervenzusammenbruch, deshalb müsse er jetzt nach Hause. Aus der Hosentasche zieht er eine Rolle Banknoten und legt mir 800 Euro hin, als Anzahlung.

Morgen sehen wir weiter. Mir langt’s vorerst.

Mittwoch, 14 Uhr

Langsam kommt etwas Klarheit in die Sache. Wir bekommen heute gegen Abend die Freigabe, vielleicht schon am Nachmittag.

Es ist ja nicht so, dass ich mich den ganzen Tag um diesen einzelnen Fall kümmern könnte. Man darf nicht vergessen, dass wir in aller Regel vor allem alte Väterchen und Mütterchen beerdigen, wie es sich gehört; also Menschen, die schon lange auf dieser Erde weilten und die eben in dem Alter sind, in dem man auch schon mal sterben kann. Andere Fälle – junge Menschen, Menschen mittleren Alters – sind glücklicherweise eher selten, und Fälle, in denen es zu einer solchen Dramatik kommt wie diesmal, sind noch deutlich seltener. Aber merkwürdigerweise treten sie oft in Serie auf. Wenn man gerade so einen doch recht merkwürdigen Fall abgeschlossen hat, kommt garantiert gleich der nächste – und dann ist oft wieder für Jahre Ruhe.

Bei Maria ist es zu einer unerwarteten Wendung gekommen: Die Mutter musste gestern Abend noch von ihrem Mann ins Krankenhaus gebracht werden, weil sie aufgrund der nervlichen Belastung einen Weinkrampf bekommen hatte. Man stelle sich einfach eine Dreizimmerwohnung voll mit Südländern vor, dazu die Polizei, ein Pfarrer der italienischen Gemeinde, die Vorbereitungen für die Bestattung – all das war einfach zu viel für die Mutter, aber sicherlich auch für den Vater. Im Krankenhaus hat die Mutter sich dann weinend einer Ärztin offenbart; daraufhin wurde erneut die Polizei hinzugezogen.

Folgendes ist wohl passiert: Die Mutter machte gestern Mittag das Kind auf der Wickelkommode fertig. Dabei ist ein Fläschchen Babyöl umgefallen, was sie aber nicht bemerkte. Nachdem sie das Kind gewickelt hatte, nahm sie es an die Schulter, damit es ein Bäuerchen machen konnte. Dabei stützte sie es mit einer Hand am Rücken und im Nacken, und mit der anderen Hand räumte sie die Utensilien und die alte Windel weg. Dabei beugte sie sich etwas vornüber, wodurch das Kind ins Rutschen kam; vor Schreck ließ sie dann alles andere fallen und versuchte, die Kleine mit beiden Händen zu greifen. Weil das Kind im oberen Nackenbereich durch das Babyöl rutschig war, fand sie zunächst keinen richtigen Halt und bekam es erst am Hals richtig zu greifen. Daraufhin hörte das Baby sofort auf zu schreien, und die Mutter rief den Vater hinzu. Beide meinten, das Kind sei nur bewusstlos, also zogen sie ihm ein Hemdchen an, legten es ins Bett und riefen sofort den Arzt. Bis hierhin haben wir es mit einem mehr als tragischen und schrecklichen Unfall zu tun, und die hier wiedergegebene Schilderung entspricht auch dem, was die Kriminalbeamten für wahrscheinlich halten und was, wie ich hörte, auch die Rechtsmediziner unterschreiben. Weitere Anzeichen von Gewalteinwirkung gibt es nicht, und – Beamte drücken sich immer so wunderbar amtlich aus – die bei der Tatorterhebung gewonnenen Erkenntnisse deuten auf ein intaktes soziales Umfeld hin sowie auf die Tatsache, dass die Eltern mit dem Baby in die Zukunft geplant haben, was durch das Vorhandensein von Gegenständen, die das Kind erst später brauchen wird, unterstrichen wurde. Von einer absichtlichen, also vorsätzlichen Tat kann keine Rede sein, heißt es.

Aber zurück zum Arzt, den man nun also gerufen hatte. Man muss wissen, dass es sich bei den Sterbepapieren, die er ausfüllt, um einen ganzen Stapel durchschreibender Blätter handelt. Allgemeine Daten wie die Personalien schreiben sich durch den ganzen Satz bis auf das unterste Blatt hindurch, während bestimmte Angaben – wie z.B. die zur Todesursache – gezielt nur auf einem Teil der Ausfertigungen landen, weil sie die Empfänger der anderen Exemplare nichts angehen. Wenn man nun beim Ausfüllen etwas eilig oder unachtsam ist und die Blätter nicht genau übereinanderliegen, schreibt sich manches in die falschen Felder durch, manches ist doppelt, vieles unleserlich und so weiter. So haben wir im aktuellen Fall lauter Kreuze auf den Durchschriften, und es ist nicht erkennbar, ob der Herr Doktor nun den natürlichen oder den nichtnatürlichen Tod angekreuzt hat. Neben das Ankreuzfeld »Plötzlicher Kindstod« hat er noch eine lange Welle gezogen, als ob da noch etwas Unleserliches käme.

Darüber, ob bei plötzlichem Kindstod immer die Polizei verständigt werden muss, gibt es unterschiedliche Meinungen: Manche sagen »auf jeden Fall«, andere »wenn der Arzt es für nötig hält«. Meine Meinung: Auf jeden Fall!

Zurzeit deutet jedenfalls alles auf einen tragischen Unfall hin. Nach dem, was mir ein Beamter so nebenbei erzählt hat, steht noch nicht einmal fest, ob überhaupt ein Verfahren gegen die Mutter eröffnet wird. Das hänge vom endgültigen Obduktionsbericht ab, da sei noch etwas offen.

Wahrscheinlich können wir die Kleine morgen früh holen, sobald die Freigabe da ist. Einen Sarg hat der Vater gestern schon ausgesucht – klassisch schlicht und in Weiß. Blumen bestellen sie selbst beim Gärtner, Zeitungsanzeigen gibt es nicht. Wenn man sieht, wie fertig der Vater ist, kann man eigentlich nur Mitleid mit ihm haben. Morgen soll das Kind hier bei uns im Aussegnungsraum bzw. in unserer Hauskapelle aufgebahrt werden, und dann kommen auch die Mutter und der Rest der Familie.