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Eine halbe Stunde geht das so. Dann geht der Vater vor und tut etwas, womit ich nicht gerechnet habe: Er lüftet den Schleier und küsst sein totes Kind auf die Stirn. Die Mutter folgt und nach ihr alle anderen. Jeder steht auf, tritt an den Sarg, an dessen Kopfende die Eltern jetzt stehen, jeder küsst die Kleine auf die Stirn – die wenigen Jugendlichen und Kinder ausgenommen, die einfach nur zum Sarg gehen und kurz stehen bleiben. Danach verlässt man die Kapelle und lässt schließlich die Eltern allein zurück.

Der Vater sieht mich hilfesuchend an, ich gehe langsam hin. Was will er?

»Hammer!«, sagt er zu mir, ich nicke einem Mitarbeiter zu. Es dauert etwas, und wir finden Hammer und Nägel, zwei Frauen holen die Mutter ab und führen sie hinaus. Und dann steht er da, dieser Mann aus Italien, und nagelt einsam und weinend den Sarg seiner kleinen Tochter zu. Man muss das nicht, man macht das normalerweise nicht, aber er tut es, Schlag für Schlag treibt er die Nägel in das Holz. Ich weiß nicht, ob es sechs oder acht Nägel sind, dann ist er fertig, streicht einmal über den Deckel und nickt – ja, das hat er gut gemacht. Für ihn ist damit alles erledigt, ein Abschluss gefunden, der letzte schwere Akt vollbracht. Dicke Tränen laufen über sei Gesicht.

Er drückt mir den Hammer in die Hand, umarmt mich, seine Tränen nässen meinen Hemdkragen, und ich weine ihm auf die Schulter.

Ich glaube, alle haben geweint.

Jagdfieber

Ein Vorurteil ist, dass Bestatter Miesepeter, Grambitter und Sauertöpfe sind. Die gehen zum Lachen in den Keller und laufen den ganzen Tag mit einer Leichenbittermiene herum. Ha! Das ist alles gar nicht wahr und in Wirklichkeit ganz anders.

Die Arbeit in einem Bestattungshaus ist, ganz anders, als es die Leute immer vermuten, überhaupt nicht traurig oder von andauernder Anteilnahme geprägt. Natürlich wissen wir, besser als jeder andere, wann wir zurückhaltend oder pietätvoll sein müssen. Aber in einem Bestattungshaus ist ja nicht ständig trauernde Kundschaft unterwegs, oftmals wartet man tagelang auf einen Auftrag, und dann kommen wieder gleich mehrere auf einmal.

In der Zeit dazwischen bleibt für uns viel Zeit zum Erzählen, die Männer im technischen Bereich spielen oft Darts, und die Frauen im Büro sabbeln sich den Mund fusselig. Allerdings sind die Frauen in dieser Zeit im Büro nicht ganz unter sich, Toni ist Praktikant und unterstützt die Büromannschaft für einige Wochen. Er ist ein wenig begriffsstutzig und ungelenk, macht seine Sache aber – für seine Verhältnisse – ganz gut.

Sie sollten auch noch Suse kennenlernen, Suse ist ein kleines grünes Jemenchamäleon und bewohnt ein Terrarium und einen Ficus benjamini in der Halle. Jemenchamäleons fressen Insekten und kleinere Wirbeltiere, wir füttern Suse unter anderem mit Heimchen. Diese zirpenden Hausgrillen, die nicht fliegen können, kaufen wir im Zoogeschäft. Da sind dann so etwa zwanzig Stück in einer kleinen Plastikschachtel. Und auch wenn es nur Insekten sind, belassen wir sie nicht in diesen Boxen, sondern füllen sie in einen größeren Behälter um, wo sie mit Wasser und Obst bei guter Laune gehalten werden, bis sie …

… ja, bis sie dann an Suse verfüttert werden. Dazu müssen dann immer vier bis fünf herausgefangen – man schnappt sie einfach mit einer langen Pinzette und packt sie in eine leere Kaffeedose – und dann in Suses verschlossenes Terrarium entlassen werden.

Lange fackelt Suse nicht und schießt sie der Reihe nach mit ihrer langen Zunge ab, vertilgt sie dann schmatzend, und jedes Mal, wenn ich das sehe, bin ich froh, dass ich keine lebenden Tiere essen muss.

Im Wesentlichen kümmern sich meine Frau und die Kinder um Suse, aber auch Antonia hat ein ganz besonderes Verhältnis zu diesem sich sehr langsam bewegenden und immer hungrigen Tier entwickelt.

Jetzt waren die Heimchen alle, und ich habe einen der Fahrer gebeten, neue zu kaufen. Im Zoogeschäft stand dieser dann vor dem Regal mit den Futterinsekten und war sich nicht mehr sicher, was er kaufen sollte. Statt der Heimchen in mittlerer Größe kaufte er sogenannte Mikroheimchen. Die sind gerade frisch geschlüpft und dienen wesentlich kleineren Insektenfressern als Nahrung oder dazu, großgezogen und später verabreicht zu werden.

Als er mit den Heimchen ankam, rief er kurz durch, dass er jetzt mit den »Zirpen« da sei, und ich sagte, dass Antonia ein paar davon ins Terrarium tun soll.

In der Schachtel befanden sich aber nun etwa hundert dieser superwinzigen Heimchen, kaum größer als Stechmücken, und Antonia dachte, dass es eine gute Idee sei, einfach diese Dose zu öffnen und ein paar herauszuschütteln. So hat sie also das Terrarium geöffnet, die Dose ebenfalls und schüttelte diese. Zunächst tat sich gar nichts, da schüttelte sie stärker, und plötzlich machte es »Plopp«, und der gesamte Inhalt der Dose rutschte ins Terrarium. Die eben noch in Angststarre verharrenden Miniheimchen erwachten zu ungeahnter Aktivität und sprangen wie wild durcheinander, und etwa dreißig bis vierzig von ihnen entschieden sich, unsere Praktikantin als neues Biotop in Besitz zu nehmen, und hüpften Antonia an.

Keine Ahnung, ob sie eines der Tiere verschluckt oder eingeatmet hat, jedenfalls erschrak sie fürchterlich und begann so etwas wie einen vorsintflutlichen Regentanz, begleitet von erstaunlich hohen und spitzen Schreien.

Mit beiden Händen fuchtelnd, fegte sie die kleinen Grillen vom Körper, schrie, hüpfte und vergaß überdies, die Tür vom Terrarium zu schließen. Diesen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit nutzten die Heimchen heimtückisch, man könnte sogar sagen: heimchentückisch, zur Flucht.

In Windeseile lief die ganze Firma zusammen, Toni, Sandy, Frau Büser, Herr Huber, Manni und seine Fahrer  … Nur ich bewahrte, wie gewohnt, die Ruhe, als ich von meinem Schreibtisch hochsprang, mir am Türrahmen das Knie anstieß und dann humpelnd in die Halle wankte: »Was ist los?«

Frau Büser steht neben der hüpfenden Praktikantin und sagt: »Ein Anfall oder so was.«

Huber meint von hinten: »Sind bestimmt Drogen.«

Sandy wirft ihm einen gelangweilten Blick zu: »Keine Ahnung, was?«

Toni fasst sich ein Herz und versucht, Antonia von hinten zu umklammern, was ihm nur ansatzweise gelingt, aber immerhin hört sie auf zu strampeln und zu schreien, und im selben Moment hüpfen einige der Heimchen von ihr herunter auf den Boden und von dahin ins Nichts.

»Heimchen, die Heimchen, sie sind alle abgehauen  …«

Man erkennt allenthalben den Ernst der Lage, Frau Büser fasst ihn in Worte: »Wir müssen die alle einfangen oder töten, sonst verstecken die sich überall und legen Eier, die werden wir nie wieder los.«

Sofort beginnt meine Belegschaft, auf den wenigen am Boden herumkrabbelnden Insekten herumzutrampeln, und ich wünschte, ich hätte eine Kamera dabeigehabt. Antonia entdeckt ein Heimchen in der Nähe ihres Ausschnitts und versucht es durch intensives Abrollen des Oberkörpers an der Wand zu zerdrücken, der sie immer noch umklammernde Toni wedelt dabei hin und her wie ein Lämmerschwanz.

Ermattet lässt sich Toni aufs Sofa fallen, er ist völlig außer Atem. Huber meint, man müsse alles ausräuchern oder noch besser alles abflammen. »Ich glaube, Sie spinnen!« lautet mein Kommentar, und Frau Büser ruft: »Gift! Da hilft nur Gift!«

»Jetzt mal langsam!«, bremse ich den zerstörerischen Enthusiasmus meiner Leute und erkläre: »Die machen doch nichts, die sind noch viel zu klein, um Eier zu legen und die zirpen auch noch nicht. Wir müssen jetzt Ruhe bewahren und alle einfangen. Die verstecken sich an dunklen Plätzen, wo sie es warm und feucht haben.«

Wie auf ein Kommando hin schauen alle zu Antonia, die sich inzwischen von der Wand abgerollt hat und mit einer Hand in ihrem Ausschnitt herumsortiert.

Auf einmal fabriziert Toni einen erstaunlichen Sprung vom Sofa hoch, so als habe er sich unmittelbar davor eine Hämorrhoide am Sofa eingeklemmt. Im Sprung greift er vom Tisch eine Zeitschrift, und mit dem Ruf: »Ich hab eins, ich hab eins!« klatscht er die Zeitschrift auf den blanken Boden. Stolz hebt er die Zeitschrift hoch, auf dem Boden liegt jedoch kein zermalmtes Heimchen, sondern irgendetwas Glitzerndes. Antonia fasst sich an die Nase. »Ach du meine Güte, das ist ja meiner!« Sie bückt sich, und der eben noch als vermeintliches Heimchen erschlagene magnetische Nasenstecker klebt schon wieder an ihrem zarten Nasenflügelchen.