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Bernies Sohn Nicholas war von Anfang an der Schandfleck im ansonsten perfekten Leben des Bernie Dexter gewesen. Lynley fand stapelweise Informationen über den jungen Mann. Denn immer wenn Nicholas Fairclough wieder einmal auf Abwege geriet, dann tat er das vor den Augen der Öffentlichkeit. Trinkgelage, Schlägereien, Einbrüche, Rowdytum auf Fußballplätzen, Trunkenheit am Steuer, Autodiebstahl, Brandstiftung, Exhibitionismus unter dem Einfluss von Drogen … Der Mann hatte eine Vergangenheit, die sich las wie die Geschichte vom verlorenen Sohn auf Anabolika. Er hatte seinen Verfall vor den Augen Gottes, der Allgemeinheit und vor allem der Presse in Cumbria zelebriert, und die Artikel, die die Lokalblättchen über ihn gebracht hatten, hatten die Aufmerksamkeit der landesweit vertriebenen Boulevardblätter erregt, die ständig auf der Suche waren nach irgendeiner Sensation für ihre Aufmacher. Vor allem wenn die Sensation von einem Spross aus namhaftem Hause verursacht wurde.

Menschen, die ein Leben führten wie Nicholas Fairclough, wurden für gewöhnlich in jungen Jahren vom Tod ereilt, er aber war von der Liebe errettet worden, die ihm in Gestalt einer jungen Argentinierin mit dem eindrucksvollen Namen Alatea Vasquez del Torres begegnet war. Nach einer erneuten Entziehungskur war Nicholas nach Park City in Utah gefahren, um sich wie üblich auf Kosten seines verzweifelten Vaters eine angemessene Reha zu gönnen. Das ehemalige Bergarbeiterstädtchen eignete sich hervorragend für einen Entspannungsurlaub, denn es lag in einem hübschen Tal in den Wasatch Mountains und zog jedes Jahr von November bis April begeisterte Skiläufer an sowie Scharen von jungen Frauen und Männern, die als Servicepersonal eingestellt wurden.

Alatea Vasquez del Torres gehörte zu der letzteren Gruppe, und laut einem besonders reißerischen Artikel haben sich die beiden zum ersten Mal an der Kasse eines Schnellrestaurants in die Augen geblickt. Es kam, wie es kommen musste. Es folgte ein stürmisches Liebeswerben, die standesamtliche Trauung in Salt Lake City, ein letzter Absturz in den Drogensumpf — seltsame Art, eine Hochzeit zu feiern, dachte Lynley. Aber Nicholas erhob sich wie Phoenix aus der Asche und überwand seine Sucht, als seine junge Frau ihn knapp zwei Monate nach der Hochzeit verlassen hatte.

«Ich würde alles für sie tun«, hatte Fairclough später erklärt.»Ich würde für sie sterben. Ihr zuliebe eine Entziehungskur zu machen, war ein Kinderspiel.«

Sie war zu ihm zurückgekehrt, er war clean geblieben, und alle waren glücklich. Das zumindest legten sämtliche Berichte nahe, deren Lynley innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden seiner Nachforschungen über die Familie Fairclough habhaft werden konnte. Falls Nicholas also auf irgendeine Weise in den Tod seines Vetters verwickelt war, wäre das merkwürdig. Denn es war kaum davon auszugehen, dass seine Frau einem Mörder treu zur Seite stehen würde.

Lynley suchte nach Informationen über die anderen Familienmitglieder, aber das wenige, das er fand, ließ sie im Vergleich zu Lord Faircloughs Sohn ziemlich langweilig erscheinen. Eine Schwester geschieden, eine andere eine alte Jungfer, ein Vetter — vermutlich der Tote — der Hüter des Vermögens der Faircloughs, die Frau des Vetters Hausfrau, die beiden Kinder brav … Die Faircloughs waren extrem unterschiedlich, aber auf den ersten Blick wirkten sie alle unbescholten.

Am Ende des zweiten Tages seiner Nachforschungen stand Lynley am Fenster seiner Bibliothek in Eton Terrace und schaute auf die Straße hinaus. Hinter ihm brannte das Gasfeuer im Kamin. Ihm war nicht wohl bei der ganzen Sache, aber er wusste auch nicht, wie er etwas daran ändern sollte. Seine Aufgabe als Polizist war es, Beweise für die Schuld eines Menschen zusammenzutragen, und nicht Beweise für jemandes Unschuld zu sammeln. Wenn der Gerichtsmediziner einen Unfall als Todesursache festgestellt hatte, dann bestand eigentlich kein Grund, die Sache weiterzuverfolgen. Denn Gerichtsmediziner wussten, was sie taten. Sie verfügten über Beweise und Zeugenaussagen, auf die sie ihre Befunde stützten. Dass der Gerichtsmediziner Ian Cresswells Tod auf einen Unfall zurückgeführt hatte — bedauerlich und zur Unzeit wie alle Unfälle —, hätte allen zumindest ein gewisser Trost sein müssen.

Es war interessant, dachte Lynley, dass Bernard Fairclough sich nicht damit abfinden wollte. Dass Fairclough trotz allem immer noch seine Zweifel hatte, legte den Verdacht nahe, dass er mehr wusste, als er bei ihrem Gespräch im Twins Club zugegeben hatte. Was wiederum den Verdacht nahelegte, dass hinter Ian Cresswells Tod mehr steckte, als auf den ersten Blick erkennbar war.

Lynley fragte sich, ob Fairclough Näheres über die Ermittlungsergebnisse im Todesfall seines Neffen wusste. Und er fragte sich, ob Fairclough von sich aus mit einem Polizisten vor Ort geredet hatte.

Lynley wandte sich vom Fenster ab und betrachtete seinen Schreibtisch, auf dem neben seinem Laptop seine Notizen und alle möglichen Computerausdrucke lagen. Vermutlich musste er andere Mittel und Wege finden, um an weitere Informationen über den Tod von Ian Cresswell zu gelangen. Gerade wollte er nach dem Hörer greifen, als das Telefon klingelte. Er überlegte kurz, ob er den Anrufbeantworter anspringen lassen sollte — seit Monaten seine übliche Reaktion, wenn das Telefon läutete —, entschloss sich jedoch, das Gespräch anzunehmen.»Wo in aller Welt steckst du eigentlich, Tommie?«, fragte Isabelle.»Warum kommst du nicht zur Arbeit?«

Er hatte angenommen, Hillier würde sich um dieses Detail kümmern. Da hatte er sich offenbar geirrt.

Er sagte:»Ich muss etwas erledigen, um das Hillier mich gebeten hat. Keine große Sache. Ich dachte, er hätte dir Bescheid gesagt.«

«Hillier? Was für eine Sache?«Isabelle klang überrascht. Er und Hillier verkehrten nicht gerade auf freundschaftlicher Ebene, und wenn es hart auf hart kam, war Lynley sicherlich der Letzte, an den Hillier sich um Hilfe wenden würde.

«Es ist vertraulich«, sagte er zu ihr.»Ich darf nicht darüber …«

«Was geht da vor?«

Er antwortete nicht gleich. Er überlegte, wie er ihr erklären konnte, was er tat, ohne ihr genau zu sagen, was er tat, aber offenbar hielt sie sein Zögern für ein Ausweichmanöver, denn sie sagte schnippisch:»Ah, verstehe. Hat es mit dem zu tun, was neulich vorgefallen ist?«

«Womit?«

«Ich bitte dich. Stell dich nicht dumm. Du weißt genau, wovon ich rede. Das mit Bob. Vor meiner Wohnung. Dass wir uns seitdem nicht mehr gesehen haben …«

«Gott, nein. Es hat überhaupt nichts damit zu tun«, fiel er ihr ins Wort, obwohl er sich insgeheim eingestehen musste, dass er sich da gar nicht so sicher war.

«Wenn nicht, warum gehst du mir dann aus dem Weg?«

«Ich gehe dir nicht aus dem Weg.«

Schweigen. Er fragte sich, wo sie war. Um die Uhrzeit müsste sie eigentlich noch im Yard sein, vermutlich in ihrem Büro. Er stellte sich vor, wie sie an ihrem Schreibtisch saß, den Kopf beim Telefonieren leicht gesenkt, ihr blondes Haar hinter ein Ohr geschoben, so dass ein unscheinbarer, aber modischer Ohrring zu sehen war. Vielleicht hatte sie einen Schuh abgestreift und beugte sich vor, um sich die Wade zu kratzen, während sie überlegte, was sie als Nächstes sagen sollte.

Was sie sagte, überraschte ihn.»Tommy, ich habe es Bob gestern gesagt. Nicht, mit wem genau ich ein Verhältnis habe, denn er würde es, wie gesagt, irgendwann gegen mich verwenden, wenn er den Eindruck hätte, dass ich mein Leben nicht in den Griff bekomme. Aber ich habe ihm gesagt, dass ich einen Geliebten habe.«