»Das habe ich.«
Pause am anderen Ende. »Mich hat gerade eben der Anwalt der Familie Baxter angerufen. Sie haben die Exhumierung gegen ihre Einwilligung beauftragt. Die Familie verklagt uns.«
»Das ist bedauerlich.«
»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen? ›Bedauerlich‹.«
»Da es sich hier um eine Angelegenheit handelt, die von der Bundespolizei bearbeitet wird, ist die Genehmigung seitens der Familie nicht erforderlich.«
»Das weiß ich selbst. Aber wir leben in der Realität, und bei einem derartigen Gerichtsprozess werden wir gar nicht gut aussehen. Also – hat die Obduktion irgendwelche entscheidenden neuen Beweise zutage gefördert?« Picketts Frage troff vor Ärger und Sarkasmus.
Keiner von ihnen antwortete.
»Agent Coldmoon?«
»Nein, Sir«, sagte Coldmoon.
»Ist die Obduktion beendet?«
»Fast.«
»Verstehe. Agent Pendergast, ich habe Ihnen bei mehr als einer Gelegenheit gesagt, dass das alles Zeitverschwendung ist, dennoch haben Sie sich meiner Anweisung widersetzt. Ihre Unbotmäßigkeit hat nichts bewirkt – außer dass sie zu einem Gerichtsprozess und einem Public-Relations-Problem geführt hat.«
»Das tut mir leid«, antwortete Pendergast.
»Mir auch. Wie Sie sicherlich verstehen, ist ein derartiges Verhalten seitens eines Bundespolizisten inakzeptabel. Und Sie sind sich bestimmt auch im Klaren darüber, dass das FBI Insubordination in überaus negativem Licht betrachtet. Hiermit ziehe ich Sie von dem Fall ab. Ich habe bereits alles Nötige veranlasst. Coldmoon wird der neue leitende Agent sein, ihm werden drei Junioragenten an die Seite gestellt, zwei aus Miami sowie ein weiterer aus New York. Und wie es sich trifft, Agent Pendergast, haben wir gerade eine freie Stelle in Salt Lake City.«
Schweigen.
»Lassen Sie mich betonen, dass es sich hier weder um eine Zurückstufung noch eine Bestrafung handelt. Es ist nicht einmal eine Angelegenheit für die Interne Ermittlung. Die Außenstelle in Salt Lake City ist zuständig für ganz Utah, Idaho und Montana. Sie werden einen großen Bereich zu verantworten haben, vergleichbar mit dem, was Sie hier tun.«
Pickett machte eine Pause. Die Stille setzte sich fort.
»Kurz gesagt, Agent Pendergast, Ihre Berufsethik befindet sich im Widerspruch zu meiner. Ich kann eine Außenstelle mit einem Mitarbeiter wie Ihnen, der macht, was er will, ohne Rücksicht auf die Befehlskette, schlicht nicht leiten. Haben Sie das verstanden?«
»Ja.«
»Haben Sie selbst etwas dazu zu sagen?«
»Nein.«
»Agent Coldmoon, wenn Sie irgendwelche Gedanken haben zu dem, was ich eben gesagt habe, lassen Sie sie hören.«
Dass Pendergast so milde und kleinlaut reagiert hatte, erstaunte Coldmoon. Wenn die Reaktion denn tatsächlich milde ausgefallen war. Was hatte die Witzelei kurz vorher über die dreißig Silberlinge zu bedeuten? Während er Picketts triumphierender Tirade gelauscht hatte, hatte sich Coldmoon allerdings noch mehr darüber gewundert, dass etwas mit ihm passierte. Er war allmählich wütend geworden: auf sich, darüber, dass er in diese Lage gebracht wurde, auf Pendergast wegen dessen geheimniskrämerischer und unorthodoxer Methoden, aber am meisten auf Pickett – weil der ihn dazu ermuntert hatte, eines der heiligsten ungeschriebenen Gesetze des FBI zu verletzen, das Gesetz der Loyalität gegenüber dem Partner. Es war nicht recht. Druck oder kein Druck, er hätte niemals in Picketts Agenda einwilligen sollen, und dafür konnte er nur sich selbst die Schuld geben. Aber Pickett hätte ihn auch gar nicht erst in diese Lage bringen dürfen.
»Ich habe tatsächlich einen Gedanken dazu«, sagte Coldmoon.
»Ich höre.«
»Mein Gedanke lautet: Ich stehe hundert Prozent hinter meinem Partner. Wenn Sie ihn von dem Fall abziehen, dann ziehen Sie auch mich davon ab.«
»Was? Haben Sie den Verstand verloren?«
»Ich glaube, dass das, was ich eben gesagt habe, sowohl deutlich als auch logisch war.«
»Tja, ich werde …« Es folgte ein Moment der Stille, bis Picketts Stimme schließlich erneut aus dem Lautsprecher des Mobiltelefons krächzte. »Sie waren gegen Pendergasts ganzen Ermittlungsansatz. Sie haben gesagt, dass er Ihre Zeit mit belanglosen Abschweifungen verplempere. Sie haben sich in Maine eine blutige Nase geholt, Ithaca war ein Reinfall, und jetzt verbrennen Sie sich ein drittes Mal die Finger mit dieser sinnlosen Obduktion. Und trotzdem halten Sie zu ihm, und das wegen falsch verstandener Loyalität. Nun, wenn Sie das so wollen, dann versetze ich Sie eben beide nach Salt Lake City. Das hier ist ein Fall von großem öffentlichen Interesse, und ich habe keinerlei Schwierigkeiten, Top-Agenten zu finden, ihn zu übernehmen. Wollen Sie das wirklich so?«
»Ja, Sir, genau so will ich es.«
»Gut. Ich werde gleich zu Ihnen runterfliegen, um die Sache amtlich zu machen.« Die Leitung war unterbrochen.
Coldmoon sah im Umdrehen, dass Pendergasts Blick auf ihm ruhte. »Das hätten Sie nicht tun müssen.«
»Doch, musste ich. Ich hab’s verdient. Ich habe eingewilligt, meinen Partner auszuspionieren – ich nehme an, Sie hatten schon geahnt, was hier abläuft.«
»Ich habe es von Anfang an vermutet.«
Coldmoon stieß ein freudloses Lachen aus. »Natürlich.«
»Sie sind ein guter Mensch, Agent Coldmoon.«
»Verdammt, Salt Lake City wird schon nicht so schlimm sein. Ich habe den Westen schon immer gemocht. Florida ist mir zu flach. Und zu grün.«
Nachdem sie einen Moment lang geschwiegen hatten, zeigte Pendergast zur Tür zum Obduktionssaal. »Kommen Sie, hören wir uns an, zu welchen Schlussfolgerungen Dr. Fauchet gekommen ist, bevor wir die sprichwörtlichen Koffer packen.«
Sie betraten gerade hintereinander den Raum, als Fauchet sich umdrehte und ihr Obduktionsbesteck beiseitelegte. »Meine Herren, ich möchte Ihnen etwas zeigen. Bitte hier entlang.«
Coldmoon und Pendergast stellten sich links und rechts der Rolltrage auf, während Fauchet die Overhead-Lampe so einstellte, dass das Licht auf den Hals der Leiche fiel.
»Ich will mal versuchen, das hier so zu erklären, dass es auch ein Laie versteht. Aber lassen Sie mich zunächst darauf hinweisen, dass die erste Obduktion – so wie beim Leichnam von Ms Flayley –, die an dieser Leiche durchgeführt wurde, bestenfalls flüchtig war. Also, wenn wir das im Kopf behalten … Sehen Sie die Male hier, hier und hier?« Sie deutete auf mehrere kaum sichtbare blaue Flecken. »Diese Flecken wurden durch Erdrosselung verursacht – laut dem Gutachten des Rechtsmediziners mit einem geknoteten Bettlaken, das Ms Baxter angeblich dazu benutzte, sich an einer Vorhangstange zu erhängen. Bei einem Erhängen wie diesem sind derartige blaue Flecken zu erwarten. Folgen Sie mir bis hierher?«
Coldmoon nickte.
»Also, hier –«, sie deutete auf einen kleinen Knochen in Form eines Hufeisens, den sie im oberen Halsbereich frei präpariert hatte, »– das ist das Zungenbein. Dieser Knochen wies, wie Sie sich erinnern, beim Flayley-Leichnam eine Fraktur auf. In dem Fall war er in der Mitte gebrochen, in einem Bereich, den wir als Körper bezeichnen – so wie auch hier. Auch das ist typisch für eigenständiges Erhängen.« Sie machte eine Pause. »Zusätzlich aber finden sich hier Frakturen in den beiden großen Hörnern, hier und hier, die die Flügel des Zungenbeins bilden.«
Sie rollte ein tragbares Vergrößerungsglas auf einem Ständer an Ort und Stelle. »Mit dem hier können Sie besser sehen.«
Coldmoon schaute auf die Stelle, danach Pendergast ebenso.
»Beide Hörner sind auf recht symmetrische Weise gebrochen.« Sie schob den Ständer wieder weg. »Diese Art Doppelfraktur kann nicht durch eine Strangulierung verursacht worden sein. Ursache hierfür ist vielmehr etwas, was wir als Druck-Würgegriff bezeichnen. Das soll heißen: Zwei Hände werden um den oberen Kehlkopf gelegt, gleichzeitig wird mit den Daumen Druck ausgeübt, und zwar in Verbindung mit einer drückenden oder schüttelnden Bewegung. Dafür braucht es eine Person mit kräftigen Händen – es handelte sich mit Sicherheit um einen Mann. In diesem Fall muss der Täter Rechtshänder gewesen sein, nach den unterschiedlichen Traumata an den beiden Flügeln zu urteilen. Ein solches Erwürgen kann man nicht an sich selbst vollführen.«