»Dann behaupten Sie also –«, begann Coldmoon und verstummte gleich wieder.
»Ich sage, dass das Opfer nicht an einer Strangulierung mittels Erhängen verstorben ist. Die Frau ist erwürgt worden. Die Strangulierung wurde unmittelbar nach dem Tod durchgeführt, als sich noch blaue Flecken bildeten, auf diese Weise wollte der Täter den Druck-Würgegriff vertuschen und es so aussehen lassen, als habe es sich um einen Suizid gehandelt.« Sie hielt kurz inne. »Aber das hier war kein Selbstmord. Diese Person ist mit absoluter Sicherheit einem Mord zum Opfer gefallen.«
27
Roger Smithback blieb stehen, putzte sich die Nase mit einer Seite aus einem Immobilien-Anzeiger, zerknüllte sie zu einer Kugel und warf sie in den Mülleimer, ehe er die Bronner Psychiatric Group PA, einen niedrigen, weiß gestrichenen Backsteinbau an der Northwest Fifteenth Avenue, betrat. Die Pollensaison – in Florida in Wirklichkeit keine Saison, sondern eine Bedrohung während des gesamten Jahres – war in vollem Gange, und seine Allergien spielten wie üblich verrückt.
Er nahm sich einen Moment lang Zeit, um tief durchzuatmen und sich auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag. Er war kein Enthüllungsjournalist, doch hatte er sich in den vergangenen Tagen häufig gefragt, ob er vielleicht seinen Schwerpunkt wechseln sollte. Er schien ein Näschen für gute Geschichten zu haben. Und dieses Näschen – das momentan lief – hatte ihn zum Beispiel hierhergeführt.
Ausgestattet mit einem Fernglas, war es ein Leichtes gewesen, sich die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen – Baxter und Flayley – von den beiden mit Polizeiband abgesperrten Gräbern zu notieren, auf denen Mister Brokenhearts seine grausigen Opfergaben hinterlassen hatte. Andere Journalisten hatten natürlich das Gleiche getan, und jetzt waren die Namen öffentlich bekannt. Dasselbe galt auch für die gestrige »Empfängerin«, Mary Adler, diejenige, deren Asche in einem Kolumbarium aufbewahrt wurde.
Aber er hatte mehr Maßnahmen ergriffen als der Rest seiner dilettantischen journalistischen Brüder. Aus der digitalen Leichenhalle seiner Zeitung hatte er sich die Nachrufe auf Baxter und Flayley besorgt – Adlers Nachruf hatte er nicht finden können – und dabei herausgefunden, dass es sich in beiden Fällen um Selbstmord gehandelt hatte. Anschließend hatte er aus alten Telefonbüchern die früheren Adressen der Frauen ausgegraben und dabei festgestellt, dass sie – auch wenn sie außerhalb des Bundesstaates verstorben waren – in Miami gewohnt hatten, und zwar nur ein paar Kilometer voneinander entfernt. Davon ausgehend, hatte er die Puzzleteile der Lebensgeschichten der Frauen zusammenfügen können.
Zweifellos hatten die Polizei Miami und Pendergast den gleichen Weg beschritten. Dann aber hatte er einen Geistesblitz gehabt. Er errötete selbst jetzt noch, als ihm aufging, wie irre clever er war. Hier waren die Selbstmorde zweier junger, vielversprechender Frauen. Er fragte sich: Waren die zu irgendwelchen Seelenklempnern gegangen? Und wenn ja, zu welchen, und könnte er denen vielleicht irgendwelche Informationen entlocken?
Dann wurde es noch besser. Beim Durchforsten großer Mengen an archivierten Internetseiten hatte er sechzehn psychiatrische und psychotherapeutische Praxen gefunden, die alle in einem geringen Radius des jeweiligen Wohnorts lagen. Er räusperte sich, legte sich eine Masche zu und fing an, Telefonate zu tätigen, wobei er verschiedene Tricks anwendete, darunter auch die, dass er sich als Bruder der Verstorbenen ausgab, der nach dem unerklärlichen Selbstmord seiner Schwester nach dieser langen Zeit endlich Frieden finden wollte. Er wusste zwar, dass die Praxen einem Anrufer keine ärztlichen Unterlagen übersandten, aber vielleicht konnte er herausbekommen, ob einer der Ärzte eine Patientin namens Baxter oder Flayley behandelt hatte.
Und dann war er fündig geworden. Beide, Baxter und Flayley, hatten tatsächlich einen Psychiater konsultiert – und zwar denselben. Einen Typen namens Peterson Bronner. Also, das war eine echt unglaubliche Verbindung – wenn auch eine, die derart unwahrscheinlich war, dass er bezweifelte, dass die Polizei, ja nicht einmal Pendergast sie hergestellt hatte. Oder hatten die das doch getan und hielten ihre Erkenntnisse geheim? So oder so, es spielte keine Rolle – er hatte die Exklusivstory.
Wer war also dieser Bronner, und was wusste er über Baxter und Flayley? Smithback hatte die vage Vorstellung – vielleicht war es auch eher eine Hoffnung –, dass Bronner selbst in ruchlose Taten verstrickt sein könnte. Fieberhaft hatte er mehrere Szenarios durchgespielt: Baxter und Flayley hatten entdeckt, dass Bronner Abrechnungsbetrug betrieb, dass er ein geldgeiler Dr. Feelgood war oder dass er irgendetwas anderes Gesetzeswidriges getan … und die beiden Frauen umgebracht hatte, um das zu verschleiern. Wer wusste schon besser als ein Seelenklempner, wie man einen Suizid gekonnt inszenierte? Vielleicht war Mister Brokenhearts ein Patient von Bronner gewesen – war es immer noch. Verdammt, womöglich war Bronner Brokenhearts und entschuldigte sich auf diese Weise für die Selbstmorde der Frauen, was bei einem Psychiater allerdings einen offensichtlichen Kunstfehler darstellte …!
Smithback holte erneut tief Luft und versuchte, seine Fantasie zu zügeln. Zunächst einmal musste er diesen Dr. Bronner sprechen.
Er glättete seine widerspenstigen Haare, machte ein Armesündergesicht, das seiner Vorstellung nach eine sehr depressive Person aufsetzte, und schob die Glastür zur Bronner Psychiatric Group PA auf. Schweren Schrittes ging er auf den Empfangstresen zu. Ein rundlicher Mann in den Dreißigern begrüßte ihn gut gelaunt, fragte nach seinem Namen und erkundigte sich, ob er einen Termin habe.
»Hm, nein«, sagte Smithback mit tonloser Stimme. »Ich bin –« Er unterdrückte einen Schluchzer. »Ich habe alles versucht. Ich habe keine Hoffnung mehr. Ich möchte nur, dass alles endet. Ich muss sofort zu Dr. Bronner – es ist ein Notfall.«
Der Mann am Empfang wirkte ziemlich nervös, zumal für jemanden, der in der Praxis eines Psychiaters arbeitete. »Es tut mir leid, aber wir sind eine Terminpraxis. Da müssen Sie sich an die Notaufnahme eines Krankenhauses wenden.« Er griff zum Telefon. »Ich rufe neun-eins-eins an und bestelle Ihnen einen Krankenwagen.«
»Warten Sie! Nein, damit fahre ich nicht. Ich will Dr. Bronner sprechen und niemanden sonst! Er hat vor Jahren meiner Schwester geholfen – sie hat mir gesagt, dass er Wunder bei ihr bewirkt habe. Ich will niemanden sehen außer ihn!« Er hob die Stimme und hoffte, derart lästig zu fallen, dass der Arzt aus seinem Sprechzimmer trat.
Der Rezeptionist, der mittlerweile sehr beunruhigt war, sagte: »Ich hole sofort eine Krankenschwester.« Er drückte einen Knopf.
»Ich will rein zum Arzt!«, rief Smithback jammerig. Das Ganze war ein bisschen peinlich – sein Bruder Bill hatte allerdings immer großen Spaß daran gehabt, Nummern wie diese abzuziehen, aber der war auch ein eher extrovertierter Typ gewesen. Er selbst war in solchen Dingen bei Weitem nicht so gut.
Eine Krankenschwester kam in den Empfangsbereich geeilt, eine hagere, ältere Frau – ein echter Drachen.
»Ich muss Dr. Bronner sehen!«, rief Smithback. »Verstehen Sie denn nicht? Ich bin verzweifelt!«
Die Frau musterte ihn streng, aber mitfühlend. »Wie heißen Sie, Sir?«
»Smithback. Ro… Robert Smithback.«
Die Schwester nickte kurz angebunden. »Dr. Bronner ist im Ruhestand. Ich bringe Sie zu Dr. Shadid.«