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Die Straße lag wie ausgestorben da. Smithback blickte den Zaun hinauf und hinunter – kein Problem. Er packte die Stäbe, zog sich mühelos hoch, schwang sich darüber und landete leichtfüßig auf der anderen Seite. Mit so viel Selbstbewusstsein, wie er aufbringen konnte, ging er mit langen Schritten die Auffahrt hoch, vorbei am Pick-up und zur Eingangstür. Er würde in dieser Sache nur einen Schuss haben, der musste also sitzen.

Er klingelte. Es folgte eine lange Stille – bis er Slipper auf dem Natursteinboden schlurfen hörte, als jemand langsam an die Haustür kam. Kurz darauf öffnete sich die Tür.

Smithback war davon ausgegangen, dass Bronner ein gebeugter, gebrechlicher, weißhaariger Typ mit Hornbrille sein würde. Der Irrtum hätte nicht größer sein können. Der Psychiater im Ruhestand war groß gewachsen, kräftig und nicht besonders alt – vielleicht fünfundsechzig. Die Kinnpartie war wildschweinhaft ausgeprägt, die Handrücken stark geädert und behaart. Während Bronner auf ihn herunterblickte, überkam Smithback das ungute Gefühl, dass mit dem Kerl irgendetwas nicht ganz stimmte.

»Dr. Bronner?«

»Wie sind Sie auf mein Grundstück gekommen?«

»Ich, ähm, bin über den Zaun geklettert.«

Daraufhin verdüsterte sich Bronners grobknochiges Gesicht, aber er sagte nichts.

»Ich bin der Bruder einer Patientin, die Sie vor Jahren behandelt haben, die unglückseligerweise Selbstmord begangen hat. Selbstverständlich tragen Sie keine Schuld daran«, fügte er hastig hinzu.

»Wer soll das sein?«

»Eine gewisse Agatha Flayley.«

Langes Schweigen. Langsam wurde Smithback mulmig zumute. Durch die offene Tür war das spärlich möblierte, ungepflegte Haus zu sehen.

»Schauen Sie, wenn es Ihnen jetzt zeitlich nicht passt«, sagte er und wich zurück. »Ich meine, wenn Sie beschäftigt sind –«

»Kommen Sie rein«, sagte Bronner, trat beiseite und öffnete die Tür etwas weiter.

Misstrauisch betrat Smithback das Haus. Es war so trostlos wie ein Gefängnis, aber zumindest hatte man einen Blick aufs Meer, das hinter einem Sichtschutz aus Knopfmangroven zu sehen war.

»Direkt am Strand«, sagte Smithback. »Nett.«

»Setzen Sie sich.«

Smithback nahm auf einem abgewetzten Sofa Platz.

»Ich erinnere mich an Agatha«, sagte Dr. Bronner langsam, setzte sich Smithback gegenüber und richtete den Blick auf ihn. »Sie hat mich konsultiert – wann war das? Vor dreizehn, vierzehn Jahren.«

»Erinnern Sie sich zufällig an das genaue Datum?«

Ein Blick in die Ferne. »Ja. Nicht genau, aber sie war zwei Jahre lang meine Patientin. 2005 und 2006, glaube ich. Ich habe keine Krankenakten hier im Haus, sie befinden sich in der Klinik. Sie unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht, es sei denn, Sie haben eine unterzeichnete Freigabe nach dem Datenschutzgesetz fürs Gesundheitswesen dabei.«

»Leider nicht. Es geht mir auch nicht um solche Informationen. Ich hoffe nur, verstehen zu können, warum sie es getan hat. Ich meine, der Suizid hat die ganze Familie überrascht.«

Ein fester Blick. »Seltsam, sie hat mir gegenüber nie von irgendwelchen Familienangehörigen gesprochen.«

Mein Gott, der Typ schnappte zu wie eine Springfalle. »Na ja, da waren nur ich und mein Halbbruder. Das habe ich mit Familie gemeint.« Smithback schluckte und versuchte, sich ernsthaft, aber hoffnungsvoll zu zeigen.

»Ihr Suizid hat auch mich überrascht. Sie war sicherlich nicht der Typus, aber man kann da nie sicher sein.«

»Eine Sache, über die mein Bruder und ich mehr erfahren wollten, ist, dass sie eine gute Freundin hatte, die Sie ebenfalls konsultiert hat. Elise Baxter.«

Ein langsames Nicken. »Noch ein Suizid.«

»Sie haben ein gutes Gedächtnis.«

»Ein Psychiater vergisst nie seine Suizidfälle.« Ein langer, ernsthafter, gruseliger Blick.

Smithback räusperte sich. »Wann ist Ms Baxter denn als Patientin zu Ihnen gekommen?«

»Ende 2004, vielleicht Anfang 2005. Wir hatten nur ein paar Sitzungen.«

»Darf ich Sie fragen, warum sie Sie aufgesucht hat? Ich meine, ich bin neugierig, was Ms Baxter und meine Schwester vielleicht gemein hatten.«

»Sie hatte eine schwierige Mutter. Eine von diesen Eltern, die einen ständig kritisieren. Aber um das Problem zu bewältigen, dafür brauchte sie eigentlich keinen Psychiater, sondern einen Gesprächstherapeuten, also habe ich sie überwiesen. Allerdings dürfen Sie nicht glauben, dass sie sich an meine Empfehlung gehalten hätte.«

»Die beiden Frauen hatten noch eine weitere gemeinsame Freundin. Eine Mary Adler. Kennen Sie sie zufällig?«

Langes Schweigen. Und dann sagte Bronner: »Nein.«

»Sind Sie da sicher? Mary S. Adler aus Hialeah?«

An diesem Punkt schaute Bronner ihm lang und fest in die Augen. »Was sagten Sie, wie hießen Sie noch gleich?«

»Smithback. Roger Smithback.«

»Smithback. Nicht Flayley. Agatha war nicht verheiratet, als sie mich aufsuchte.«

Smithback schluckte. Mist.

»Okay, Smithback, was soll das Spielchen?«

»Kein Spielchen, überhaupt kein Spielchen. Ich bin bloß ein hinterbliebener Bruder –«

»Hören Sie auf, solchen Quatsch zu reden. Ich lese auch Zeitung. Mary Adler, Agatha Flayley, Elise Baxter. Die Brokenhearts-Gräber.«

Smithback schluckte erneut, allerdings mit mehr Mühe.

»Sie sind gar kein hinterbliebener Bruder. Sie sind Reporter, stimmt’s?«

Erwischt. Was jetzt?

»Dann stimmt es also. Sie sind Reporter, und Sie sind unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hergekommen!«, brüllte Bronner auf einmal, packte mit seinen knotigen Händen die Stuhllehnen, stand auf und blickte auf Smithback herunter.

»Hm, ja. Stimmt.« Smithback brachte es einfach nicht fertig, weiter zu lügen. »Ich arbeite als Reporter für den Herald – und möchte wissen, warum Flayley und Baxter Ihre Patientinnen waren und dann, elf Jahre nach ihrem Tod, von Brokenhearts als Opfer ausgewählt wurden. Zufall?«

Bronner trat auf ihn zu, ballte schon die Fäuste, und plötzlich verlor Smithback den Mut und wich einige Schritte zurück.

»Was wollen Sie mit dieser Unterstellung behaupten? Glauben Sie etwa, ich habe etwas mit dieser Sache zu tun?«

»Ich unterstelle gar nichts. Ich bin hergekommen, um die Wahrheit herauszufinden.«

»Du hast es darauf abgesehen, meine Praxis zugrunde zu richten, du Dreckskerl!«

»Das Ganze hat nichts mit Ihrer Praxis zu tun. Ich werde die Information – dass die beiden Opfer Ihre Patientinnen waren – veröffentlichen, weil es im öffentlichen Interesse liegt.« Smithback bemühte sich angestrengt, sowohl Mut als auch Würde aufzubringen, was jedoch durch die Angst, die in seiner Stimme lag, vereitelt wurde. »Ich möchte Sie bitten, diesen Umstand zu kommentieren, Dr. Bronner. Ist es Zufall … oder etwas anderes?«

»Hier ist mein Kommentar, du kleiner Scheißer!« Bronner ballte die riesige Faust und trat einige Schritte vor. Obwohl dreißig Jahre älter als der Journalist, war er dennoch Furcht einflößend, und Smithback, der von Natur aus ein Feigling war, dem es immer gelungen war, sich aus heiklen Situationen herauszureden, sprang zurück. »Nur einen Moment, denken Sie daran, was Sie tun, wie das aussehen wird –«

Einen Grunzer ausstoßend, stürzte sich Bronner auf Smithback. Der wich einem schweren Schwinger aus, drehte sich um und huschte zur Eingangstür hinaus, den Arzt auf den Fersen. Er rannte zum Zaun, dichtauf gefolgt von Bronner. Er sprang gerade hoch, als der Arzt seinen Fuß packte. Er riss sich los, verlor einen Slipper und landete auf der anderen Seite. Er sprintete zum Wagen – der eine Fuß ohne Schuh –, stieg ein, ließ den Motor an und raste davon, dass der Sand nur so aufspritzte. Das Letzte, was er sah, war Bronner, der am Tor rüttelte, das Gesicht knallrot vor Wut.

Du Scheißkerl, dachte er, du kannst uns Presseleuten nicht so ohne Weiteres drohen und damit durchkommen. Allerdings: Ein Schuh war draufgegangen – ein Vans Classic, sechzig Dollar das Paar –, und es war eher unwahrscheinlich, dass Bronner ihm den zurückgeben würde.