Er sah auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. Halb elf – immer noch viel Zeit, eine Geschichte in die Zeitung reinzudrücken. »Hey, Siri«, sagte er im Fahren, »schau mal Dr. Peterson Bronner nach.« Dann, nach kurzem Nachdenken, fügte er noch hinzu: »Vorstrafenregister.«
»Dies habe ich im Internet gefunden«, antwortete die irritierend angenehme Stimme. Das erste Bild, das auf dem Display seines Handys erschien, war ein Verbrecherfoto des Arztes. Er hielt sich ein Schild vor die Brust und stand vor einer Wand aus Betonziegeln.
31
Das Präsidium der Polizei Miami war in einem großen, niedrigen Gebäude untergebracht, das Coldmoon mit seinen Reihen getönter, nach oben auskragender Fensterscheiben an einen Luftverkehrskontrollturm erinnerte. Es lag an der Northwest Second Avenue, unweit der Wolkenkratzer der Innenstadt und nicht weit entfernt vom städtischen Friedhof. Aufgrund ihrer erinnerungswürdigen, rasenden Fahrt zum Grab von Agatha Flayley erkannte Coldmoon sogar ein paar Wahrzeichen der Stadt wieder.
Und nicht nur die Fahrt war ihm in Erinnerung geblieben. Als er von Pendergast im Hotel abgeholt worden war, fand Coldmoon seinen Partner in einem zerbeulten gelben Taxi vor, dessen Geruch im Innenraum – vom Fahrer ganz zu schweigen – nur allzu vertraut war. Pendergast, schien es, hatte Axel aufgespürt und als Interims-Fahrer eingestellt. »Er kennt die Stadt«, hatte Pendergast erklärt, als sie auf dem MacArthur Causeway Richtung Westen gerast waren. »Und er genießt offenbar seine neu gewonnene Freiheit, ohne die üblichen Einschränkungen Auto fahren zu dürfen. Ich bewundere Menschen, die stolz auf ihre Arbeit sind.«
Coldmoon, der es gründlich leid war, in dem irrwitzigen Verkehr in Miami herumzufahren, hatte nichts dagegen.
Nach einer entsprechend beängstigenden Fahrt hielt das Taxi neben dem Eingang zum Polizeipräsidium, wobei die schlecht gewarteten Bremsen laut und vernehmlich quietschten. Die Reporter, Journalisten und Kameraleute am Haupteingang wichen zurück, als sie das Geräusch hörten, während Pendergast aus dem Taxi stieg, Coldmoon ebenso. Axel – Coldmoon hatte immer noch keine Ahnung, wie der Mann mit Nachnamen hieß – zeigte keinerlei Anstalten, weiterzufahren, sondern legte stattdessen ein kleines schwarzes Mäppchen mit einer goldenen Dienstmarke aufs Armaturenbrett.
»Das haben Sie ihm gegeben?«, fragte Coldmoon.
»Ist bloß eine Spielerei«, lautete die Antwort.
Als sie Frischfleisch roch, kreiste die Meute der Reporter sie wieder ein. Pendergast und Coldmoon drängelten sich durch die Menge, vermieden jeden Augenkontakt und ignorierten die gerufenen Fragen. Eine Fernsehjournalistin – eine junge Frau, kurze blonde Haare, breite Wangenknochen, teuer wirkendes Outfit – versperrte Coldmoon den Weg und tanzte mal zur einen, dann zur anderen Seite, als er an ihr vorbeizukommen versuchte. Er erkannte sie wieder, er hatte sie gesehen, als er im Hotelzimmer zwischen den Kanälen hin und her gezappt hatte. Sie arbeitete als Investigativreporterin für einen Lokalsender. Fleming oder so ähnlich hieß sie – an ihren Vornamen konnte er sich nicht mehr erinnern. Sehr attraktiv, aber mit Augen so hell wie die einer Klapperschlange.
»Entschuldigen Sie, Sir!«, rief die Frau und hielt ihm ein Mikrofon hin, versehen mit einer knalligen 6, während Pendergast stehen blieb und nach hinten blickte. »Sir! Was können Sie mir zu dem jüngsten Opfer sagen? Können Sie bestätigen, dass hier ein Serienmörder am Werk ist?«
Coldmoon nahm seine Cap ab. »H’ahiya woglaka ye. Owakahnige sni.« Und damit trat er so taktvoll wie möglich um die Frau herum.
»Was haben Sie ihr da eben geantwortet?«, fragte Pendergast, als sie das Gebäude betraten.
»Ms Fleming? Ich habe ihr gesagt, dass ich sie nicht verstehe, und sie gebeten, langsamer zu sprechen.«
Pendergast lachte missbilligend. »Gelogen ist gelogen, selbst auf Lakotisch.«
»Im Reservat hatten die Ältesten ein Sprichwort: Es gibt nur einen, der schlimmer ist als ein Lügner – der Heuchler.«
»Meiner Cajun-Großmutter in New Orleans hat dieses uralte Sprichwort auch sehr gut gefallen.«
Pendergast ging zum großen Empfangstresen und sprach leise mit einem uniformierten Polizisten. Der Cop deutete zur Aufzugbatterie in der Nähe. Sie zeigten ihre Ausweise, meldeten sich an, schritten durch die Sicherheitsschleuse und strebten auf die Aufzüge zu.
»Wir gehen jetzt zum sogenannten ›Kriegsraum‹, der Einsatzzentrale«, sagte Pendergast. »Dort bewahrt die Polizei Miami ihre elektronischen Spielzeuge auf. Dadurch stehen ihr die neuesten Informationen praktisch in Echtzeit zur Verfügung, dazu Links zu zahlreichen medizinischen und kriminologischen Datenbanken. Ich bin dabei, einen eignen kleinen Arbeitsplatz vorzubereiten, in einer weniger auffälligen Gegend, aber für eine erste Plauderei dürften die Räumlichkeiten genügen. Dieser Verbindungsbeamte, Commander Grove, hat versprochen, sich hier mit uns zu treffen, zusammen mit Lieutenant Sandoval.«
»Glauben Sie wirklich, dass Pickett sein Versprechen einhält und uns unsere Arbeit machen lässt, ohne dazwischenzufunken?«
»Noch hat man uns nicht in die Wüste geschickt, oder?« Sie traten aus dem Aufzug und gingen über einen mit diversen Geräten vollgestellten Flur. Coldmoon sah auf die Uhr: exakt fünfzehn Uhr.
Der »Kriegsraum« machte seinem Namen alle Ehre – er strotzte nur so von Computern und einer riesigen, glänzenden Wandtafel auf Rollen. Coldmoon blickte sich um. Einige Leuchtstofflampen hinter den Milchglas-Deckenpaneelen waren durchgebrannt, eine flackerte. Auf einem Tisch in der hinteren Ecke stand eine ramponierte Kaffeemaschine, umgeben von Stapeln Pappbechern und Kännchen mit Milchpulver. Er musste sich nur die halb volle Kanne ansehen, um zu wissen, dass sie nur ein, zwei Stunden auf der Warmhalteplatte gestanden hatte. Zu frisch. Trotz des High-tech-Equipments kam ihm das hier alles vertrauter vor als das schicke FBI-Hauptquartier in Miramar, wo Dr. Mars sie über das psychologische Profil des Täters aufgeklärt hatte. Der Raum verströmte eine Wohlfühl-Atmosphäre, ein Ort, an dem echte Polizeiarbeit geleistet wurde, mit Schleifspuren an den Wänden, einer scheppernden HLK-Anlage und ohne Fenster. Coldmoon entspannte sich.
Die Mitte des Raumes wurde von einem rechteckigen Tisch eingenommen. Am einen Ende saßen Sandoval und Commander Grove. Sandovals Miene war bemüht ausdruckslos, aber der Commander konnte seinen interessierten, ja, begierigen Gesichtsausdruck nicht ganz verbergen. Und warum auch nicht, es war schließlich eine spektakuläre Ermittlung, eine für die Geschichtsbücher.
»Meine Herren«, sagte Pendergast und nickte den Anwesenden nacheinander zu. »Dank der Arbeit von Dr. Fauchet wissen wir jetzt, dass Flayley derselben Art von Druck-Würgegriff ausgesetzt war, der auch zum Tod von Baxter führte. Kurzum, es handelt sich hier um Tötungsdelikte, die als Suizide inszeniert wurden.« Er drehte sich Sandoval zu. »Lieutenant, gibt es irgendetwas Neues, das Sie uns zur Kenntnis bringen möchten?«
Sandoval strich sich über den imaginären Schnauzer. Dabei verdüsterte sich seine Miene. »Dieser Schlagzeilenjäger Smithback stachelt die Bevölkerung auf. Erst gräbt er den Spitznamen Brokenhearts aus, dann findet er heraus, erst heute Morgen, dass Baxter und Flayley beim selben Seelenklempner in Behandlung waren.« Er griff nach seinem Handy und las laut aus einem Online-Artikel vor:
Zwar hat die Polizei es abgelehnt, die Texte der auf den Gräbern zurückgelassenen Briefe zu veröffentlichen, doch die gruseligen »Geschenke« selbst deuten auf eine psychisch gestörte Person hin, die überraschenderweise vielleicht nicht ins Schema des klassischen Psychopathen passt – von der aber allgemein angenommen wird, dass sie weder Reue noch so normale menschliche Regungen wie Mitgefühl und Einfühlungsvermögen kennt. Da gilt es zu fragen: Was bedeuten diese »Geschenke« für den Schenkenden? Verlust? Reue? Buße? Wenn die Behörden mehr Zeit darauf verwenden würden, die Psychologie von Mister Brokenhearts zu untersuchen, und sich fragten, welche furchtbaren Erlebnisse dahinterstecken, dass ein Individuum mit einer derart abartigen Einstellung geschaffen wird, dann könnten sie ihn möglicherweise finden, und zwar ohne den Verlust von noch mehr Menschenleben.