Angewidert legte er das Handy zurück auf den Tisch. »Wir hätten den Seelenklempner selber finden müssen, es nicht aus einer verdammten Zeitung erfahren dürfen. Genauso, wie wir uns stärker um eine mögliche Verbindung zwischen den alten Selbstmorden und den neuen Morden hätten kümmern müssen. Das geht auf unsere Kappe.«
»Wenigstens weiß dieser Reporter nicht, dass die ›alten Selbstmorde‹ eben nicht Selbstmorde waren«, sagte Coldmoon.
Sandoval nickte. Dann drückte er auf eine kleine Fernbedienung, die auf dem Tisch lag, und das große schwarze Rechteck am anderen Ende des Zimmers ging an. Coldmoon sah, dass es sich gar nicht um eine Wandtafel handelte, sondern um einen Monitor mit ultragroßer Auflösung. Der Bildschirm teilte sich in drei Fenster, die Kopf-Aufnahmen zeigten Baxter, Flayley und Adler.
»Ich finde es sonderbar«, sagte Pendergast, »dass zwar alle diese mutmaßlichen Selbstmörderinnen im Großraum Miami gewohnt haben, jedoch Hunderte Kilometer weit auseinander ermordet wurden. Wobei die jüngsten Brokenhearts-Morde alle in Miami Beach stattgefunden haben.«
»Halten Sie das für relevant?«, fragte Sandoval.
»Ich habe nicht die blasseste Ahnung.«
Sandoval wandte sich an Grove. »Gibt’s was Neues über das rechtsmedizinische Gutachten zu Adler, Commander?«
»Wir haben endlich die Blockade durchbrochen«, sagte Grove. »Unser Team hat Adlers Akte und die Fotos aus der Gerichtsmedizin ausfindig gemacht. Ich erhalte sie innerhalb der nächsten Stunde. Die Frau war anscheinend Anhängerin einer Country-Music-Band, den Fat Palmettos, und ist von Hialeah rauf nach North Carolina gefahren zu einem Konzert, das nie stattgefunden hat – der Leadgitarrist hatte sich einen Daumen verrenkt.«
»Die Fat Palmettos«, sagte Coldmoon.
»Die Gruppe hat sich vor mehreren Jahren aufgelöst.«
»Wir überprüfen die trotzdem«, sagte Sandoval. »Derzeit befragen unsere Teams hier in Miami Beach Adlers verbliebene Familienangehörigen, ehemalige Kolleginnen, den Rest. Bislang nichts von Bedeutung.«
»Irgendwelche neuen Entwicklungen in Bezug auf Misty Carpenter und ihr ungewöhnliches Geschäftsmodell?«, fragte Coldmoon.
»Wir haben ihre Kundenliste entschlüsselt«, sagte Sandoval, »und mit den Befragungen begonnen. Auch hier sieht es so aus, als ob es sich um ein Gelegenheits-Zielobjekt handelt.«
»Hm«, sagte Pendergast halblaut, wandte kurz den Blick ab und kniff die Augen zusammen. Dann sah er wieder Sandoval an. »Haben Sie vielen Dank, Lieutenant. Sie haben uns sehr geholfen.«
»Gerne«, sagte Sandoval und sammelte seine Unterlagen zusammen.
Keine Fragen, keine Manöverkritik, kein nichts – einfach nur Zusammenarbeit. Coldmoon musste zugeben: Pickett hatte Wort gehalten.
»Commander Grove«, sagte Pendergast, »jetzt, da wir ein deutlicheres Bild haben, wonach wir suchen, wäre es meine Hoffnung, dass die Abteilungen ›Recherche‹ und ›Außenbeziehungen‹ – die, wenn ich das richtig verstehe, in Ihren Zuständigkeitsbereich fallen – für uns ein Netz auswerfen könnten. Insbesondere, um nach Todesfällen zu suchen, die als Selbstmorde deklariert wurden, die zum Modus Operandi bei Baxter, Flayley und Adler passen. Es stimmt zwar, dass wir noch keine Informationen zu Adler haben, aber meines Erachtens lohnt es, nach weiteren Selbstmorden zu fahnden, die möglicherweise so inszeniert wurden, dass sie wie Morde aussahen – finden Sie nicht auch?«
»Doch, schon, das ist eine sehr gute Idee.« Grove machte sich Notizen in einem kleinen, ledergebundenen Notizbuch.
»Es wird ein ziemlich weites Netz sein, sodass ich fürchte, dass auf Ihre Leute jede Menge Arbeit zukommen wird. Sie werden nach Selbstmorden suchen müssen, die mit den folgenden Eigenschaften übereinstimmen: weiblich, zwischen zwanzig und vierzig, die im Großraum Miami wohnhaft waren, aber außerhalb des Bundesstaates verstorben sind, die sich mit einem geknoteten Bettlaken erhängt und keinen Abschiedsbrief hinterlassen haben. Sollte eine Obduktion zum Schluss geführt haben, dass es sich um einen Mord handelte, oder auch nur zu dem Verdacht, schließen Sie diese Fälle in die Suche ein. Vorerst könnten Sie, um die Suche zu erleichtern, diese auf die Bundesstaaten östlich des Mississippi begrenzen.«
»Habe verstanden«, sagte Grove, der immer noch schrieb. »Und der Zeitraum?«
»Januar 2006 bis Januar 2008.«
Coldmoon sah Pendergast an. Mit derart weit gefassten Suchparametern würden sie seiner Einschätzung nach vermutlich eine Liste mit so vielen Einträgen wie ein Telefonbuch bekommen. Aber zum Glück hatten sie ja Grove, dem die Ressourcen zur Datensammlung der Polizei Miami zur Verfügung standen.
Grove stand auf. »Wenn es nicht noch etwas anderes gibt, Gentlemen, dann würde ich mich gerne sofort an die Arbeit machen.«
»Wir sind Ihnen für Ihre Unterstützung zu großem Dank verpflichtet, Commander«, sagte Pendergast.
»Gern geschehen. Vielleicht können Sie mich einmal im Twenty-Six Federal Plaza herumführen, wenn ich in New York bin.«
»Es wäre mir ein Vergnügen.« Und damit drehte sich Pendergast um, während Grove Lieutenant Sandoval aus der Einsatzzentrale folgte und den Flur entlangging.
32
Smithback war eben in den Newsroom gekommen und richtete sich für den Vormittag in seinem Kabuff ein, als der Gemeinschaftssekretär, Maurice, mit einer Kiste voller Briefe zu ihm herüberkam.
»Ein Haufen Post für Sie.«
»Kann nicht ein anderer die Briefe öffnen und nachsehen, was drinsteht? Ich muss hier was recherchieren.«
»Wir haben die Briefe aufgemacht. Sechs sind angeblich von Mister Brokenhearts höchstpersönlich. Mr Kraski hat die in seinem Büro und möchte Sie tout de suite sehen.«
Smithback stöhnte, stand auf und schlängelte sich zwischen den Kabuffs hindurch zum Büro des Chefredakteurs. Kraski war ein großer, massiger Typ, trug verschwitzte Hemden mit Schlips – ohne Sakko –, dazu einen Mecki, der im Jahr 1955 aus der Mode gekommen war. Er sah aus, als hätte er das Lehrbuch studiert, wie man zum hartgesottenen, großmäuligen Zeitungs-Chefredakteur wird. Das Einzige, was fehlte, war die Zigarette im Mundwinkel. Hinter der rauen Schale verbarg sich natürlich ein ganz weicher Kern – ein Klischee, wie aus Extrablatt entsprungen.
»Wo zum Teufel haben Sie gesteckt?«, sagte Kraski zur Begrüßung.
»Ey, Boss, es ist halb zehn. Und das war doch ein echter Knüller, den ich da gestern gelandet habe mit dieser Geschichte über den Seelenklempner. Ich meine, zwei der toten Frauen waren bei dem in Behandlung! Und der Dreckskerl hat mich attackiert, als ich ihn danach gefragt hab. Ich habe einen Background-Check gemacht und festgestellt, dass er seine Frau während der Scheidung körperlich angegriffen hat – er musste Kurse zur Aggressionsbewältigung belegen. Darum hat man ihn aus seiner Praxis hinausgedrängt. Ich sage Ihnen, der Mann sieht sogar aus wie ein Serienmörder.«
»Mag sein.« Kraski wedelte mit der Hand. »Wie erklären Sie sich dann aber, was hier auf meinem Schreibtisch liegt: sechs Briefe an Sie von Mister Brokenhearts.«
»Die sind natürlich Bullshit.«
»Finden Sie? Dann sehen Sie sich die mal an.« Kraski schob sie zu ihm herüber. Die Umschläge waren aus billigem Papier, die Schrift sah merkwürdig aus, eine Adresse war mit Buntstift geschrieben. Der sechste Brief steckte in einem teuren, cremeweißen Kuvert.