Smithback zog einen der Briefe aufs Geratewohl heraus.
Ey, Smithback, ich bin Mister Brokenhearts, und ich werd Dir Deine scheiß Eier abreißen und …
In diesem Ton ging es weiter, außerdem steckte der Text voll orthografischer Fehler und grammatischer Abscheulichkeiten. Smith zog einen anderen Brief aus seinem Umschlag.
Lieber Roger Smithback, ich bin Mister Brokenhearts ich hab zwei Frauen als Geißeln genommen sie befinden sich in 333 Ocean Drive Allmeda Sie sollten besser sofort herkomme sonst bring ich die um …
Er legte auch diesen Brief zur Seite und griff nach dem cremefarbenen Kuvert, zog den Brief hervor und faltete ihn auseinander. Dieser Brief war in einer eleganten Schönschrift verfasst, jeder Buchstabe wie gemalt. Als Smithback ihn zu lesen begann, lief es ihm kalt den Rücken herunter.
Lieber Roger,
Sie verstehen mich vielleicht. Die Tode dieser Frauen schreien nach Gerechtigkeit. Der ihre am meisten. Erst wenn sie zur Ruhe gebettet ist, kann ich ruhen. Ihretwegen hatte mein Leben einen Sinn, und darum muss ich weiterleben. Verstehen Sie? Ich muss Abbitte leisten. Wenn Sie mir dabei nicht helfen können, muss ich allein weitermachen – und das wird nicht gut enden.
Hochachtungsvoll
Mister Brokenhearts
»Junge, Junge.« Er sah Kraski an. »Dieser Brief … der könnte echt sein.«
»Ganz meine Meinung.«
»Das müssen wir doch der Polizei melden, oder?«
»Sicher, sicher. Die Sache ist nur die: Wir wissen nicht wirklich, ob der Brief von Brokenhearts stammt. Ich meine, hier liegen noch fünf weitere – und das ist nur die Post von heute. Zusätzlich zu Ihrem Psycho von einem Seelenklempner.« Kraski deutete mit dem Finger auf den Umschlag. »Das ist Ihre Story. Machen Sie sich an die Arbeit. Sobald Ihr Artikel erscheint – sagen wir, in zwei Stunden –, übergeben wir alle sechs an die Polizei.«
Smithback nahm Brief und Umschlag an sich. »Okay.«
»Besorgen Sie eine Probe von der Handschrift dieses Seelenklempners. Vielleicht können wir rausfinden, ob es derselbe Typ ist. Aber wir müssen die Fakten genau checken, seien Sie also auf der Hut. Nur belegbares, offizielles Zeug. Sie neigen zu Rechthaberei. Lassen Sie das.«
»Ja, Sir.«
»Und jetzt Abmarsch.«
Smithback ging mit den Briefen zurück zum Schreibtisch, schob die Kiste mit der anderen Post mit dem Fuß weg und machte sich an die Arbeit. Als Erstes las er den Brief nochmals, wobei ihm besonders ein Satz ins Auge sprang. Ihretwegen hatte mein Leben einen Sinn, und darum muss ich weiterleben. Er googelte den Satz und fand heraus, dass es sich um ein abgewandeltes Zitat aus dem Roman Abbitte des britischen Romanautors Ian McEwan handelte. Interessant. Sehr interessant. Er musste es unbedingt in den Artikel einbauen.
Ein Brief von Brokenhearts, an ihn persönlich adressiert. Und ein Seelenklempner in Schwierigkeiten mit nicht nur einer, sondern zwei Verbindungen zu dem Fall. Spieltheoretiker spekulierten, dass die Evolution unmittelbar erfolgreichen Zügen entsprang. Wenn das stimmte, entwickelte er sich rasant zu einem Starreporter, der über große Mordfälle berichtete.
Er fing an zu schreiben, wobei seine Finger nur so über die Tastatur huschten.
33
Die Hände auf den Hüften, die Lippen geschürzt, blickte sich Coldmoon im Zimmer um. Er hatte das Gefühl, eine Zeitreise unternommen zu haben, vielleicht auch in das Set des Kinofilms Gangster in Key Largo gefallen zu sein … diese Deckenventilatoren, die Topfpalmen in der Ecke, die großen Korbstühle mit den runden Rückenlehnen, die halbhohe Wandverkleidung, die Juteteppiche … und diese erdrückende Hitze. In der Mitte des riesigen Raums stand ein verschnörkelter viktorianischer Tisch, umgeben von Stühlen und übersät mit Dokumenten, Akten und Fotografien – aber ohne Computer. Hinter dem Tisch wurde das unruhige, verschossene Tapetenmuster an der hinteren Wand von zwei Korkbrettern und mehreren großen Landkarten unterbrochen. Kaum zu glauben, dass es hier am Rande von Little Havana immer noch alte, heruntergekommene Wohnungen wie diese gab. Das ferne Rauschen des Rushhour-Verkehrs auf dem Dolphin Expressway drang durch die Fenster. Die Ventilatoren drehten sich langsam, wirbelten die abgestandene Luft auf, die spätnachmittägliche Sonne schien durch die Jalousien an den Fenstern und warf Streifen von Licht auf eine Wand.
Pendergast saß im weißen Leinenanzug in einem der Korbstühle, die Finger zu einer Raute zusammengelegt, neben sich auf dem Tisch eine Beweismittel-Box. In einer anderen Ecke lümmelte, wie Coldmoon sah, der Taxifahrer Axel auf einem Sofa und säuberte sich mit einem Stilett die Fingernägel.
»Treten Sie ein, Agent Coldmoon, fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.«
Coldmoon betrat das Zimmer.
»Ich hatte Glück, diese Wohnung zu finden«, sagte Pendergast. »Sie liegt in der Mitte zwischen dem Miramar-Gebäude des FBI Miami und der Polizeidirektion Miami. Eine höchst praktische Lage, die die Fahrtzeiten beträchtlich verringern dürfte – sofern wir Auto fahren müssen. Die Wohnung liegt zentral zu allen relevanten Orten unserer Ermittlungen und weit weg von den Touristenströmen, die uns hier das Leben so schwer machen.«
Coldmoon ging zum Fenster und zog die Jalousien auseinander – ein Versuch, ein wenig frische Luft einzuatmen, aber stattdessen stieg ihm der Geruch von pollo de la plancha in die Nase.
Er drehte sich um. »Sagen Sie mal, glauben Sie, wir könnten die Klimaanlage hochdrehen?«
»Es gibt hier keine Klimaanlage«, sagte Pendergast. »Es tut mir leid, davon bekomme ich Schnupfen. Ich hatte das Glück, dass ein lieber alter Freund mir diese historische Wohnung überlassen konnte, auch wenn sie manchen Komforts entbehrt.«
Coldmoon krempelte die Ärmel seines Jeans-Arbeiterhemds hoch. »Wieso historisch?«
»Hier hat John Huston das Drehbuch zu Der Schatz der Sierra Madre geschrieben. An diesem Tisch, um genau zu sein.«
»Okay.«
Eine Klingel hoch oben an einer Wand ertönte einmal, dann ein zweites Mal, wobei der Staub auf der Glocke die Lautstärke dämpfte. Pendergast blickte zum Sofa. »Axel, würden Sie die Herrschaften bitte hereinlassen?«
Axel klappte missmutig sein Messer zusammen, stand auf und schlurfte zur Tür, die zum Treppenhaus führte. Coldmoon fand es merkwürdig, dass Pendergast ihn zum Chauffeur erkoren hatte – er kam und ging, wann es ihm gefiel, und zeigte, auch wenn er ersichtlich ein Profi am Steuer war, kein besonders großes Interesse, was seine und die Sicherheit seiner Fahrgäste betraf. Obendrein hatte er eine etwas unangenehme Ausstrahlung. Trotzdem glaubte Coldmoon zu verstehen, warum Pendergast ihn eingestellt hatte: Der Mann war gewitzt und besaß jene Art von Verlässlichkeit, die einem nur jemand entgegenbrachte, dem Geld über alles ging. Denn ganz offensichtlich misstraute Axel den Strafverfolgungsbehörden. Ausgeschlossen, dass Pickett oder irgendjemand sonst von ihm erfuhr, was sie hier taten.
Coldmoon vernahm ein kurzes, halblaut geführtes Gespräch, Schritte, die die Treppe heraufkamen, und dann erschien Dr. Fauchet in der Tür, mit Commander Grove im Schlepptau. Sichtlich überrascht blickte sie sich um. Axel war nicht bei ihnen – offenbar hatte er die Gelegenheit genutzt, einer seiner dubiosen Privatangelegenheiten nachzugehen.
»Dr. Fauchet. Commander Grove. Herzlich willkommen. Bitte nehmen Sie Platz.« Pendergast zeigte zum Tisch. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Evian? Pellegrino?«
»Was ist das hier für eine Wohnung?«, fragte Grove.
»Mein eigenes kleines Refugium«, sagte Pendergast. »Nennen Sie es einen meditativen Rückzugsort.«
Fauchet und Grove setzten sich kopfschüttelnd an den Tisch. Fauchet legte einen großen Arm voll Akten auf den antiken Tisch, so lässig, als wäre der bei Ikea gekauft worden. Unterdessen räumte Grove einen Bereich frei und legte seine Aktentasche darauf ab.