»Commander Grove«, sagte Pendergast und drehte sich zu ihm um. »Ich glaube, Sie haben Neuigkeiten für mich.«
Grove zog sein unvermeidliches Notizheft hervor. Coldmoon fand es erstaunlich, dass Grove so viele Informationen auf so kleinem Raum parat haben konnte. Die andere Hälfte musste er wohl abrufbar im Kopf haben.
»Ich musste meine Leute in den letzten vierundzwanzig Stunden ziemlich auf Trab halten. Die für die Recherche und die Analyse zuständigen Teams haben über das ViCap-Programm Suchanfragen mit Datenbanken des öffentlichen Gesundheitssystems sowie den bundesstaatlichen und lokalen Polizeibehörden korreliert – und zwar die Ostküste rauf und runter. Wobei die lokalen Datenbanken natürlich geschützte Such– und Indexierungs-Methoden verwendeten, von den üblichen falschen Einträgen und falschen Positivmeldungen, die alles verlangsamen, ganz zu schweigen.« Diese kleinen Ärgerlichkeiten tat er mit einer knappen Handbewegung ab. »Wie auch immer, aus mehreren Tausend Selbstmorden haben wir schließlich achtzehn herausgefiltert, die dem Muster entsprechen: das richtige Alter, Datum, Ort, Art des Erstickens, mutmaßliche Todesursache. Ich habe die Obduktions-Gutachten und Polizeiberichte an Dr. Fauchet weitergeleitet, die Ihnen ihren Befund nun mitteilen wird.«
Nach dieser bewundernswert kurzen Einführung nahm Dr. Fauchet den Faden auf. »Als Erstes sollte ich Ihnen mitteilen, dass ich auf Grundlage der Obduktionsfotos, die die Polizei Miami schließlich der rechtsmedizinischen Abteilung des Rocky Mount abluchsen konnte, bestätigen kann, dass Mary Adler auf eine Art getötet wurde, die den Morden an Elise Baxter und Agatha Flayley ähnelt: durch einen Druck-Würgegriff, durch den im Fall von Mary Adler der rechte Flügel des Zungenbeins brach und der linke unversehrt blieb. Eindeutig ein Mord, er wurde zwar gut verborgen, aber es handelt sich unbestreitbar um ein Tötungsdelikt. Zudem wurde der Körper des Zungenbeins partiell gebrochen, höchstwahrscheinlich im Rahmen eines inszenierten Erhängens, das nach ihrem Tod stattgefunden hat. Was die achtzehn Selbstmorde betrifft, konnte ich fünfzehn aus verschiedenen Gründen aussortieren. Bei diesen handelt es sich zweifelsfrei um Suizide, und die Art der Traumata, die den Obduktionsfotos und den Aufzeichnungen des Rechtsmediziners ganz klar zu entnehmen sind, passen nicht zu unseren drei Opfern. Den sechzehnten Fall habe ich aussortiert, weil ich, obwohl ein Flügel des Zungenbeins gebrochen war, bei näherer Betrachtung des Falls festgestellt habe, dass kein Mord vorliegt, weil das Geländer, an dem sich die Frau erhängt hat, zusammenbrach, wodurch erhebliche Verletzungen sowohl am Oberkieferknochen wie auch am Hals selbst verursacht wurden.« Sie hielt kurz inne. »Andererseits findet sich bei den beiden anderen Frauen genau jener Modus Operandi, nach dem wir suchen: die Fraktur von mindestens einem Flügel des Zungenbeins, wobei der rechte Flügel stärker eingedrückt ist als der linke, gefolgt von einem Post-mortem-Erhängen mit einem geknoteten Bettlaken.«
»Sie sind also überzeugt, dass es sich um Morde handelt, die von unserem Mörder so inszeniert wurden, dass sie wie Selbstmorde aussehen?«, fragte Pendergast.
»Ich bin überzeugt, dass es sich um Morde handelt, die als Selbstmorde inszeniert wurden«, sagte Fauchet. »Was die Frage betrifft, wer diese Morde verübt hat – nun, das herauszufinden, liegt in Ihrer Verantwortung, Agent Pendergast.« Diese Entgegnung ging einher mit einem Lächeln, während sie gleichzeitig ihre Aktentasche öffnete, aus der sie zwei braune Mappen hervorholte, die sie über den Tisch Pendergast und Coldmoon reichte.
»Laurie Winters und Jasmine Oriol«, fuhr sie fort. »Erstere wurde tot in Bethesda, Maryland, gefunden, Letztere in Savannah, Georgia, im Abstand von vier Monaten. Beide alleinstehend, beide jünger als vierzig, beide aus dem Großraum Miami, keine hat ein Selbstmordschreiben hinterlassen. Die eine unterwegs auf Geschäftsreise, die andere freischaffende Fotografin auf Auftragsreise. Und beide, wie Sie sehen werden, mit der gleichen Fraktur des größeren Zungenbeinhorns. Beachten Sie, dass im Fall von Winters nur das rechte Zungenbeinhorn gebrochen ist; bei Oriol sind beide Zungenbeinhörner gebrochen. Das ist aus den Röntgenbildern ersichtlich. Zur Verteidigung des Rechtsmediziners, der damals die Obduktion vornahm, sollte ich allerdings darauf hinweisen, dass bei beiden Opfern der Hals äußerlich sehr starke Hautabschürfungen aufwies – wenn auch nicht in dem Maße wie bei Flayley –, wobei im Fall von Oriol zudem das Knorpelmaterial des Kehlkopfs eingedrückt ist.«
Während Fauchet dies ausführte, blätterte Coldmoon in den Fotos: ein paar Farbfotos der Tatorte der Selbstmorde, einige Nahaufnahmen vom Hals der Opfer vor und nach der Sektion, und die Röntgenbilder, die Fauchet erwähnt hatte. Die Frakturen waren zwar eingekringelt, aber er musste trotzdem ganz genau hinschauen, um die Haarrisse zu erkennen. Es war so, wie Fauchet sagte: Unter diesen Umständen hätte man ein ziemlich paranoider Rechtsmediziner sein müssen, um, ganz buchstäblich, den Schädel unter der Haut zu erkennen.
»Wie es scheint, wurden diese beiden neu entdeckten Opfer demnach von einem Rechtshänder getötet«, sagte Pendergast. »Wie auch Elise Baxter und Mary Adler.«
»Ja. In allen vier Fällen waren einer oder beide Flügel des Zungenbeins gebrochen, wobei der rechte Flügel in allen Fällen stärkere Verletzungen aufweist als der linke.«
»Allerdings nicht bei Agatha Flayley. Sie sagten uns, dass Ihnen bei Ihrer zweiten Untersuchung des Leichnams aufgefallen sei, dass der linke Flügel des Zungenbeins eine Grünbruchfraktur aufgewiesen habe – aber nicht der rechte.«
»Das stimmt«, sagte Fauchet.
»Und dann ist da noch mein Freund Ianetti, der Dokumentenexperte«, ging Grove dazwischen. »Laut seiner Aussage wurden die beiden von ihm untersuchten Briefe von einer linkshändigen Person verfasst – was der Art und Weise entspricht, wie die Kehlen der jüngsten Opfer mutmaßlich durchtrennt wurden: von hinten, und von rechts nach links.«
Es entstand ein Moment der Stille. Dann verlagerte Pendergast sein Gewicht auf dem Korbstuhl. »Na ja, was ist ein Serienmord schon ohne Rätsel? Wie auch immer, ausgezeichnete Arbeit, Dr. Fauchet. Dank Ihnen und Commander Grove haben wir jetzt fünf vor langer Zeit verstorbene Opfer identifiziert, auf die wir unsere Ermittlung gründen können.« Er hielt kurz inne. »Noch eine zusätzliche Frage. Dr. Fauchet, Sie haben deutlich gemacht, wie schwierig es ist, diese Fälle als Mord statt als Selbstmord zu klassifizieren, und dass sie eine chirurgische oder radiologische Untersuchung erfordern. Wie sieht das Ganze aus der Sicht einer taktilen Diagnose aus?«
Dr. Fauchet runzelte die Stirn. Es schien, als hätte Pendergasts Bemerkung bezüglich der augenscheinlichen Linkshändigkeit des Flayley-Mörders sie ein wenig ernüchtert. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen.«
»Diese Frauen wurden von zwei starken Händen erdrosselt. Die Strangulationsmerkmale, das angebliche Ersticken durch eigene Hand, wurden nachträglich hinzugefügt. Wenn Sie diese Hälse direkt mit den Fingern palpieren, abtasten würden – und dabei die visuellen Hinweise auf Abschürfungen und Quetschungen ignorieren –, würden sich die Schädigungen an den Zungenbeinhörnern anders anfühlen als, sagen wir, die Schädigungen, die ein Selbstmord durch Erhängen normalerweise verursacht?«
»Die Frage habe ich mir noch nie gestellt. Ich … na ja, ich nehme an, dass das der Fall wäre. Man könnte vielleicht sogar spüren, wie der Knochen bricht, wenn man die Hände um den Hals legt – eine Art Knacken, würde ich meinen. Warum fragen Sie?«
»Ich habe mich nur gefragt, ob uns der Mörder unbewusst – oder sehr wohl bewusst – diesen Hinweis hinterlassen hat.«
Jetzt meldete sich Grove zu Wort. »Ich habe mich bereits mit Lieutenant Sandoval in Verbindung gesetzt, damit wir Hintergrundinformationen zu Winters und Oriol erhalten. Dr. Fauchet, wenn Sie alle relevanten Daten zu den fünf Obduktionen zusammenstellen könnten – den beiden, die Sie durchgeführt haben, und den dreien, deren Befunde Sie analysiert haben –, wäre das sehr hilfreich.«