»Ist schon in Arbeit«, sagte Fauchet.
»Da wäre noch etwas«, sagte Pendergast. »Commander, ich glaube, die Polizei in Miami sollte die Gräber von Winters und Oriol überwachen lassen.«
Es entstand eine unbehagliche Stille. Grove räusperte sich. »Ja. Ich erkenne die Logik dahinter. Gott bewahre, aber wenn er erneut mordet, können wir ihn vielleicht dabei erwischen, wie er eines dieser Gräber, ähm, dekoriert. Hoffentlich kommt es nicht dazu.«
»Einen Moment«, sagte Coldmoon. »Wäre es nicht besser, die Information zu streuen, dass wir zwei weitere Morde/Selbstmorde identifiziert haben, die Fälle Winters und Oriol? Es könnte diesen Typ womöglich davon abhalten, noch eine Frau zu opfern, da er ja weiß, dass wir die Gräber von Winters und Oriol beobachten!«
»Die traurige Wahrheit lautet«, sagte Pendergast, »wenn man mit einem derart großen Datensatz arbeitet, kann es durchaus sein, dass weitere Morde/Selbstmorde Commander Grove durchs Netz geschlüpft sind. Was ich meine, ist Folgendes: Selbst wenn diese beiden Gräber keine ›Geschenke‹ bekommen haben, kann es andere geben, bei denen dies der Fall ist.«
Er ließ diese gruselige Vorstellung einen Augenblick so stehen. »Und dennoch. In der Hoffnung, dem zuvorzukommen, ist es meines Erachtens an der Zeit, unmittelbar mit Mister Brokenhearts in Kontakt zu treten.«
»Wie bitte?«, sagte Coldmoon. »Wie soll das denn funktionieren?«
»Er hat jetzt einen Brieffreund.«
»Sie meinen doch nicht diesen Reporter, Smithback?«, sagte Grove. »Dem kann man nicht trauen. Wir überprüfen bereits diesen Psychiater, über den er geschrieben hat. Warum wollen wir für Smithback Gratiswerbung machen? Er hat, weiß Gott, bereits die halbe Stadt in Panik versetzt.«
»Sein spöttischer Artikel verdunkelt nur den zentralen Sachverhalt«, sagte Pendergast. »Der da lautet: Brokenhearts hat sich an Smithback gewandt.« Und damit entfernte er den Deckel einer Beweismittel-Box, griff hinein und nahm irgendwelche Latexhandschuhe heraus, die er überstreifte. Dann holte er fünf verschieden große Briefe hervor, deren Umschläge aufgerissen waren, und legte sie auf dem Tisch aus. Schließlich zog er einen weiteren Brief heraus, ohne Umschlag, dessen einzelnes Blatt zwischen zwei Glasplatten lag.
»Dies sind sechs Briefe, die Smithback heute Morgen erhalten hat. Fünf davon stammen von Spinnern. Der sechste – der, den er in seinem jüngsten Artikel zitiert – ist echt. Unser Freund Mr Ianetti, der forensische Dokumentenexperte, hat bestätigt, dass Papier, Tinte und Schrift identisch sind, von Ton und Stil des Briefs ganz zu schweigen, der eine literarische Anspielung beinhaltet. Das ist Mister Brokenhearts, der da zu Roger Smithback spricht. Handelt es sich hier bloß um den Brief eines kranken Individuums, das nach Aufmerksamkeit giert? Ich glaube, nein. Schließlich hat er schon vorher Briefe geschrieben, und das waren private Briefe, zurückgelassen auf Gräbern, nicht an Zeitungen verschickt. Ich denke, dass Smithbacks Artikel möglicherweise unabsichtlich eine Saite in Brokenhearts angeschlagen hat. Der Artikel ist nicht mit Schaum vor dem Mund geschrieben, er hat Brokenhearts nicht als Psychopathen bezeichnet, so wie das andere Journalisten getan haben. Und dies ist die Antwort von Mister Brokenhearts: Ich muss Abbitte leisten. Wenn Sie mir dabei nicht helfen können, muss ich allein weitermachen.« Er setzte sich zurück und blickte in die Runde. »Sie haben sicherlich bemerkt: Wenn Brokenhearts seinem Muster treu geblieben wäre, hätte er gestern Abend erneut gemordet. Smithback könnte ihm zu denken gegeben haben – und dafür gesorgt haben, dass er sich Zeit damit lässt. Aber man täusche sich nicht: Brokenhearts bittet nicht nur um Hilfe, er gibt ein Versprechen ab. Wenn wir ihn nicht aufspüren – oder irgendeinen Weg finden, ihm zu helfen –, wird er wieder morden. Und zwar bald.«
Alle am Tisch verstummten. Nach einem Augenblick sah Pendergast nacheinander Grove und Fauchet an. »Haben Sie vielen Dank für Ihre Mithilfe. Es ist spät, und Sie beide haben bestimmt sehr viel zu tun, ich möchte Sie also nicht länger aufhalten.«
Coldmoon wartete, bis Grove und Dr. Fauchet gegangen waren, dann drehte er sich zu Pendergast. »Sie wollen doch wohl nicht wirklich Smithback benutzen, um mit Brokenhearts in Verbindung zu treten? Ich wollte das nicht vor den anderen sagen, aber ich halte das für eine schreckliche Idee.«
Pendergast lächelte. »Es stimmt – ich habe gesagt, dass Mr Smithback einen Brieffreund hat, aber ich habe nicht behauptet, dass ich durch ihn mit Brokenhearts sprechen möchte. Vielleicht haben Sie, als Sie aufwuchsen, einmal den Aphorismus gehört: ›Man braucht tausend Stimmen, um eine Geschichte zu erzählen.‹ Nein, diese Geschichte wird auf andere Art erzählt werden, mit verschiedenen Stimmen.« Er zog sein Handy hervor und wählte eine Nummer. »Hallo. Ist da WSUN 6, der Nachrichtensender für Südflorida? Ausgezeichnet. Können Sie mich bitte mit dem Büro von Ms Fleming verbinden? Ganz recht, Carey Fleming. Vielen Dank.«
34
Die Studios von WSUN-TV befanden sich nicht in der Innenstadt von Miami, so wie Coldmoon erwartet hatte. Stattdessen lagen sie ganz weit draußen, im entlegenen südwestlichen Vorort Kendale Lakes, eingezwängt zwischen einem 36-Loch-Golfplatz und dem Miami Executive Airport. Selbst mit Axel am Steuer hatte es über vierzig Minuten gedauert, um dort hinzukommen.
Coldmoon stieg aus dem Taxi und stand auf einem Parkplatz, der ein lang gestrecktes, niedriges Gebäude umgab, das vor Satellitenschüsseln und Funktürmen nur so strotzte. In der Nähe stand eine Reihe von Übertragungswagen, über Nacht geparkt, auf den Dächern kleinere Versionen der gleichen elektronischen Spielzeuge. Coldmoon gähnte, streckte sich und massierte sich den unteren Rücken. In der Ferne, hinter einer Reihe von Bungalows mit überdachten Pools und Häusern mit identischen Dachschindeln, war eine endlose Reihe grünlich brauner Feuchtgebiete zu sehen. In der kurzen Zeit, die er in Südflorida war, hatte er gelernt, dass es hier offenbar vier Lebensräume gab: die küstennahen Prachtstraßen für die Ultrareichen, die geschlossenen Wohnkomplexe für wohlhabende Ruheständler, trostlose Viertel wie aus Grand Theft Auto – und Sümpfe.
Commander Grove saß im Wartebereich für Besucher kurz hinter dem Eingang. Als sie durch die Glastür in die künstliche Kühle traten, erhob er sich vom Stuhl.
»Sie kommen gerade rechtzeitig«, sagte er und schüttelte ihnen nacheinander die Hand. »Ich hatte schon befürchtet, Sie hätten sich verfahren.« Er drehte sich zu Pendergast. »Ihr Segment ist das nächste. Ich hole einmal die Regieassistentin.« Und damit eilte er einen Flur hinunter.
»Er scheint sich hier auszukennen«, sagte Coldmoon, während sie sich am Empfangstresen anmeldeten.
»Wenn man bedenkt, dass seine Tätigkeit Öffentlichkeitsarbeit einschließt, kann es durchaus sein, dass das hier seine zweite Heimat ist«, antwortete Pendergast.
Grove kam augenblicklich zurück, gefolgt von einer flotten jungen Frau mit einem Klemmbrett in der Hand. »Ich heiße Natalie«, sagte sie und begrüßte sie per Handschlag. »Danke, dass Sie sich gestern Abend an uns gewandt haben. Wer von Ihnen ist Agent Pendergast?«
Pendergast verneigte sich leicht.
»Super. Sind Sie schon einmal in einer Live-Fernsehsendung aufgetreten, in einem Studio-Setting?«
»Nein, noch nicht.« Pendergasts Miene blieb – so wie es während der ganzen Fahrt hier heraus der Fall gewesen war – ausdruckslos. Wie Coldmoon wusste, hatte Pendergast früher am Tag mit Pickett gesprochen. Ihm war allerdings nicht mitgeteilt worden, worum es in dem Gespräch ging.