Es war schlicht Zufall gewesen, dass er die Sendung eingeschaltet hatte. Und da war dieser FBI-Mann – eigenartig, in Schwarz gekleidet, aber bleich wie der Tod –, der vor der Kamera stand und mit ihm redete. Mit ihm.
Ich weiß, dass Sie irgendwo dort draußen sind, Sie sehen und hören mir zu.
Er starrte derart verblüfft auf den Bildschirm, dass er alles unscharf sah. Niemand hatte je so zu ihm gesprochen. Selbst als er sehr jung war, in den guten Zeiten vor der REISE, hatte er nicht solche Worte, solches Mitgefühl, solch freundliches Verständnis erlebt.
Ich weiß, Sie hatten ein fürchterliches Leben. Dass Ihnen die Führung und Orientierung fehlte, der wir alle bedürfen, um Recht von Unrecht unterscheiden zu können.
Aber er konnte Recht von Unrecht unterscheiden. Konnte es wirklich. Und das wusste er, weil er ABBITTE LEISTETE. Das war ja der Sinn seiner Vorbereitungen – und der AKTION. Wie konnte dieser Mann ihn denn verstehen, ihm diese jedoch zugleich unerklärlich sein?
Zwar ist es meine Aufgabe, Sie zu stoppen, aber ich möchte, dass Sie eines wissen: Ich bin nicht Ihr Feind.
Plötzlich – als er seine Glieder wieder bewegen konnte – schleuderte er die Fernbedienung gegen den Bildschirm. Sie prallte davon ab, zerbrach und fiel auf den Boden. Einen Moment lang schaute er sich um, verwirrt und unglücklich, sah auf den Staub, der sich in den Ecken angesammelt hatte, die abblätternde Tapete, die Eingangstür mit den beiden gesprungenen Fensterscheiben, die Außenlampe in Eulenform mit der geplatzten Glühbirne, und dann brach er unvermittelt in Tränen aus. Seit über zehn Jahren hatte er nicht mehr geweint, jetzt aber flennte er, fiel lang auf den Boden, wand sich hin und her, knirschte mit den Zähnen und hieb mit den Fäusten auf die alten Holzdielen ein, kreischte, als könnte der Klang allein auf irgendeine Art die Dämonen austreiben, die Jahre zurückbringen, die fürchterliche, unaussprechliche REISE ungeschehen machen.
Doch die Dämonen verschwanden nicht, und schließlich verklangen die Schreie. Erst wurden sie zu einem Wimmern, dann zu quälenden Schluchzern, schließlich – zu nichts. Er lag auf dem Boden, mit Schmerzen am ganzen Körper, völlig erschöpft.
Zwar ist es meine Aufgabe, Sie zu stoppen, aber ich bin nicht Ihr Feind.
Er ließ sämtliche Gefühle aus sich heraussickern, jetzt atmete er ohne Eile, ließ es zu, dass die Demut zurückkehrte, Stück für Stück in der Dunkelheit des Zimmers. Er prüfte seine Sinnesempfindungen, eine nach der anderen, und endete mit dem Hörsinn. Es herrschte Stille, bis auf dieses Hintergrundsummen, das nie ganz verschwand.
Mit der Schwäche, die er soeben gezeigt hatte, war zu rechnen gewesen. Aber trotz dieser Schwäche kannte er seine Pflicht, und er besaß immer noch die Kraft, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Nun gab es etwas Neues, auf das er sich vorbereiten musste.
Es ist meine Aufgabe, Sie zu stoppen.
Es ist meine Aufgabe, Sie zu stoppen.
Langsam, ganz langsam stand er vom Fußboden auf. Er spürte, dass der Boden unter seinen Füßen fest war, fühlte, dass seine Entschlossenheit nicht ins Wanken geriet. Er blickte sich um in dem schattenhaften Zimmer, das nur von dem auf stumm geschalteten Fernseher erhellt wurde.
Dieser Mann, in Schwarz gekleidet wie ein Richter, hatte sich einfach so an ihn gewandt. Wer war er? War er wirklich nur ein FBI-Agent? Oder ein Racheengel – oder der Großinquisitor?
Er wusste es nicht. Aber was er wirklich wusste, war, dass immer noch entscheidende Arbeit vor ihm lag – und dass so viel davon abhing.
Jetzt schritt er entschlossen zu den beiden einzigen Möbelstücken im Zimmer, einem abgenutzten Kartentisch und einem einzelnen Klappstuhl. Er setzte sich und zog den Stuhl an den Tisch heran. Auf der schwarzen Vinyl-Tischplatte lagen drei Bündel aus weichem Filzstoff.
Er starrte auf die Bündel, während sein Herz zum regulären Rhythmus zurückkehrte. Dann griff er nach dem linken Bündel und öffnete es. Zum Vorschein kam ein alter Wetzstein aus Carborundum – Siliziumkarbid, ein Tiegel mit Theaterschminke in Mattschwarz sowie eine zerbeulte Dose mit minderwertigem Mineralöl. Der Stein, der von einer Qualität war, die nicht mehr erhältlich war, hatte zwei Seiten: Körnung 4000 und Körnung 8000. Da er niemals zuließ, dass seine Freunde stumpf wurden, bestand keine Notwendigkeit, sich einen raueren Stein zuzulegen.
Nun wechselte er zu den anderen beiden Bündeln, die er behutsamer öffnete. Im ersten schlief Archy, im zweiten Mehitabel. Er wollte sie nicht allzu unsanft wecken.
Allein die beiden in dem warmen, flackernden Licht des Fernsehers zu sehen, half ihm dabei, sich seine tragischen Verpflichtungen in Erinnerung zu rufen. So viel hängt von ihnen ab …
Er nahm den Wetzstein in die Hand und legte ihn vor sich hin, mit der feineren Seite nach unten, dann gab er auf die Seite mit Körnung 4000 ein paar Tropfen Öl. Ihm war zwar durchaus bewusst, dass heutzutage eher Wasser dafür verwendet wurde, aber er hatte die herkömmliche Art – so wie alte Freunde – lieber. Mit zwei Fingern rieb er das Mineralöl in den Stein, bis dieser matt glänzte. Sorgfältig wischte er sich die Finger eine Minute lang am Bein seiner schwarzen Jeans ab. Erst dann nahm er Mehitabel zur Hand, legte ihre Klinge in einem präzisen 15-Grad-Winkel an den Stein, und dann begann er fast widerwillig, ohne Freude, die Klinge mit langen, konzentrierten Streichbewegungen zu schärfen.
36
Inzwischen füllten die Briefe, die für Smithback eintrafen, drei Kisten, die sich in seinem Kabuff stapelten. Die Briefflut hatte sich als unerwarteter Segen erwiesen. Natürlich stammten bislang so gut wie alle Briefe – bis auf den echten, den von Brokenhearts selbst – von Spinnern, Parapsychologen, Irren, toxischen Nachbarn, Hellsehern, einander entfremdeten Ehepaaren und anderen geistesgestörten Leuten, aber sie waren trotzdem eine wahre Goldmine an Storys. Seit die Geschichte rund eine Woche zuvor publik geworden war, hatte Smithback praktisch nonstop über den Fall geschrieben.
Da war zum Beispiel der Artikel über den Parapsychologen, der, mit Geister-Pendel und Ouija-Brett ausgestattet, in das Flayley-Mausoleum eingebrochen war und behauptete, mit der Toten in Verbindung zu stehen. Und da war die Eisenhans-Männerliteratur-Gruppe, die von einer radikalen Feministin »gedisst« wurde. Und der glücklose Herzchirurg, der, Opfer einer Verschwörungstheorie, die viral ging, am Vortag morgens in seiner Klinik angekommen war und feststellte, dass eine wütende Menge auf ihn wartete.
Hinzu kam, dass Pendergasts Überraschungsauftritt im Fernsehen am Vorabend, statt die Situation zu beruhigen, die Stadt in Aufruhr versetzt hatte. Halb Miami war wütend auf den anscheinend mitfühlenden Ton, den Pendergast in seinem spontanen Appell angeschlagen hatte, während die andere Hälfte sich über die Behörden aufregte, weil diese Mister Brokenhearts noch immer nicht gefasst hatten. Man redete kaum noch über etwas anderes.
Inmitten dieser Kakofonie gab es nur einen, der plötzlich verstummt war: Brokenhearts selbst. Es hatte keine weiteren Morde, keine weiteren Schreiben gegeben – nichts.
Aber Smithback war gut drauf. Wenn da nicht diese verdammte Bronner-Spur gewesen wäre. Was so vielversprechend angefangen hatte, war im Sande verlaufen. Baxter und Flayley waren Bronners Patientinnen gewesen, nicht aber Adler, das andere Selbstmordopfer. Nach seinem Artikel hatte die Polizei Ermittlungen eingeleitet, aber Smithback hatte von seinem Informanten, dem Cop, erfahren, dass Bronner für die infrage kommenden Nächte absolut wasserdichte Alibis hatte. Das Ganze schien ein Zufall zu sein. Bronner war nichts weiter als ein Alkoholiker-Arschloch, der seine Frau schlug und Schwierigkeiten hatte, seine Aggressionen zu beherrschen, kein Serienmörder.
Aber alles andere war spitze – trotz dieses Rückschlags. Smithback musste nach wie vor Hunderte Briefe öffnen, und der Himmel allein wusste, was für spannende Sachen und bizarre Beichten womöglich noch an die Oberfläche kommen würden. Er lieferte die guten Geschichten, und Kraski ließ ihn in Ruhe. Die ganze Sache war in der Tat eine Goldmine unterhaltsamer Storys, und Smithback hatte die Absicht, weiterhin mit aller Kraft zu schürfen.