Er ging an den Korkbrettern vorbei zu den Landkarten und blieb vor der großen Karte vom Großraum Miami stehen, auf der alle relevanten Orte markiert waren. Er drehte sich zu Fauchet um. »Was sieht man auf dieser Karte, Dr. Fauchet? Außer dem, was offensichtlich ist, meine ich.«
Sie hielt kurz inne, ehe sie antwortete. »Wie ein … na ja, die sieht aus wie ein Nadelkissen.«
»Genau! Die Karte strotzt vor Stecknadeln. Unterschiedliche Orte und unterschiedliche Farben. Rot für die Tatorte der neuen Morde, Grün für die Wohnorte der Opfer, Blau für die Friedhöfe, Gelb für die Wohnsitze der Opfer der alten Morde/Selbstmorde. Ganz zu schweigen vom Orange für Winters und Oriol, die glücklicherweise nicht mit den aktuellen Morden gepaart sind.« Er zeigte auf die Karte. »Erkennt irgendwer hier ein Muster? Irgendwas Relevantes? Irgendeinen Hinweis, welche Agenda Mister Brokenhearts – der, wie wir wissen, ein intelligenter, planvoll agierender Mörder ist – womöglich verfolgt hat?«
Schweigen am ganzen Tisch.
»Verständlicherweise nicht. Denn ich glaube, dass das Muster sich anderswo verbirgt, und zwar bei jenen Frauen, die vor elf Jahren ermordet wurden.«
Er deutete auf das rechte Korkbrett. »Baxter, Flayley, Adler, Winters und Oriol.«
Fauchet runzelte die Stirn. »Aber zwischen diesen alten Morden/Selbstmorden scheint ein noch geringerer Zusammenhang zu bestehen. Wie Commander Grove sagte, haben sie an völlig unterschiedlichen Orten stattgefunden.«
»Es scheint kein Zusammenhang zwischen ihnen zu bestehen, weil wir von einer falschen Annahme ausgegangen sind. Wir haben uns allzu sehr mit der Verknüpfung dieser Fälle mit Mister Brokenhearts befasst und der Frage, ob es sich bei den über zehn Jahre alten Todesfällen um Selbstmord oder Mord handelt. Niemand hat innegehalten, um einen grundlegenden Punkt der Beweiserhebung zu untersuchen: die genauen Daten, an denen diese Frauen starben.«
Jetzt ging Pendergast zu einer anderen, noch größeren Karte, sie zeigte die Ostküste der Vereinigten Staaten. Aus einem kleinen Kästchen nahm er sich eine Handvoll schwarze Stecknadeln. »Untersuchen wir einmal diese Fälle, allerdings nicht in der Reihenfolge, wie die Herzen auf den Gräbern der Frauen zurückgelassen wurden, sondern in der Reihenfolge, wie die Frauen getötet wurden.« Er begann, die Nadeln an die entsprechende Position zu stecken. »Jasmine Oriol, die vor elf Jahren und zehn Monaten starb, etwas südlich von Savannah, Georgia. Mary Adler, die vor elf Jahren und acht Monaten in Rocky Mount, North Carolina, starb. Laurie Winters, vor elf Jahren und sechs Monaten, etwas nördlich von Washington, D. Y. C., in Bethesda, Maryland. Und Elise Baxter, die in Katahdin, Maine, starb – vor fast genau elf Jahren und vier Monaten.«
»Mein Gott«, sagte Grove und starrte mit offenem Mund auf die Landkarte. »Das ist eine Fährte. Der Mörder hat eine gottverdammte Fährte gelegt.«
»Bis zur kanadischen Grenze«, sagte Coldmoon und fragte sich dabei, wann Pendergast das alles herausgefunden hatte. »Wobei zwischen den einzelnen Morden jeweils genau zwei Monate liegen.«
»Es gibt noch einen weiteren interessanten Aspekt an diesen Mordfällen«, sagte Pendergast. Er legte den Finger neben die südlichste Stecknadel – Oriol –, dann schob er ihn langsam hinauf zur nördlichsten, Baxter.
»Alle diese Todesfälle haben sich entlang der Interstate 95 zugetragen«, sagte Coldmoon.
»Nicht nur das, die Morde liegen auch ungefähr in gleicher Entfernung voneinander.« Er hielt inne. »Was also haben wir? Morde, die auf gleiche Weise verübt wurden, mittels Strangulation, so ausgeführt, dass es wie Selbstmord aussieht. Morde, die hinsichtlich Raum und Zeit in gleicher Weise voneinander getrennt sind. Morde, die einer offensichtlichen Route folgen. Kilometer um Kilometer, vom einen Ende bis zum anderen, ist die Interstate 95 die am stärksten befahrene Straße in den USA.« Er wandte sich der Gruppe am Tisch zu. »Ich lege Ihnen die These zur Untersuchung vor, dass die Serie von Gewaltverbrechen, wenn man sie auf diese Weise betrachtet, von einer geradezu schmerzlichen Regelmäßigkeit ist. Dieser Mörder – vielleicht auch die Mörder – hat einen sorgfältigen Plan verfolgt. Einen wohlüberlegten Plan. Es scheint fast so, als hätte der Täter gewollt, dass den Strafverfolgungsbehörden das Muster auffällt.«
»Aber Sie haben einen Aspekt vergessen«, sagte Coldmoon.
Pendergast schien fast zu schmunzeln. »Nicht vergessen, Agent Coldmoon, nur für einen Augenblick zurückgehalten.« Wieder nahm er sich eine Stecknadel und drückte sie in die Landkarte. »Agatha Flayley, das letzte Opfer der Selbstmorde/Morde, ermordet in Ithaca, New York, vor genau elf Jahren. Dreihundert Kilometer von der Interstate 95 entfernt. Und zwar mit anderem Modus Operandi.« Und damit nahm auch er Platz am Tisch.
Es folgte ein Moment der Stille.
»Ich verstehe das nicht ganz«, sagte Grove. »Sie haben da eben ein makelloses Muster aufgezeigt – und es dann mit diesem Flayley-Mord praktisch widerrufen.«
»Ich würde es anders formulieren, Commander. Es kann durchaus sein, dass Agent Coldmoon das treffende lakotische Sprichwort für solch eine Situation kennt, aber ich hoffe, er erlaubt mir, stattdessen ein lateinisches zu zitieren. Esceptio probat regulam in casibus non exceptis. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Dieser letzte der alten Morde ist tatsächlich anders als die anderen, aber es ist genau dieser Unterschied, den ich aufschlussreich finde.« Er verschränkte die Hände auf dem Tisch und beugte sich vor. »Überlegen Sie einmal. Der Mord findet außerhalb der Reihe statt – vier Monate nach Baxters Tod. Alle anderen Erdrosselungen lagen zwei Monate auseinander. Der Modus Operandi ist anders. Auch wenn Flayley erdrosselt wurde, es wurde weniger Kraft ausgeübt, und zwar so viel weniger Kraft, dass sie noch am Leben war, als sie von der Brücke geworfen wurde. Auch das ist anders. Die anderen Frauen wurden alle im Schlafzimmer oder Badezimmer erhängt, aber Flayley wurde von einer Brücke heruntergestoßen, an einem öffentlichen Ort.« Er hielt kurz inne, dann sagte er: »Bei den anderen Morden wurde auf das rechte Horn des Zungenbeins eine größere Kraft ausgeübt, was auf eine rechtshändige Person schließen lässt. Bei Flayley war der linke Flügel des Zungenbeins leicht gebrochen.« Er hielt abermals inne. »Ein etwas schwächeres, linkshändiges Individuum vielleicht?« Jetzt legte Pendergast das Kinn leicht auf seine zusammengelegten Finger, während er fast schelmisch von Coldmoon zu Grove, dann zu Fauchet schaute und ihr zuzwinkerte.
»Ein Partner!«, sagten Fauchet und Coldmoon gleichzeitig.
»In der Tat«, sagte Pendergast. »Auch wenn meiner Meinung nach das Wort Lehrling treffender wäre.«
»Dieser Handschriftenexperte, Ianetti, hat gesagt, dass die Person, die die Briefe geschrieben hat, linkshändig ist«, fügte Coldmoon hinzu.
»Ja, ja, das hat er.« Grove, der während des Wortwechsels mit seinen Gedanken offenbar woanders gewesen war, richtete sich plötzlich auf. »Das Gleiche gilt für das Durchschneiden der Kehle. Das passt alles zusammen.«
»Dieser Umstand könnte möglicherweise nicht nur erklären, warum dieser Mord anders war, sondern auch, warum es der letzte seiner Art war.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Coldmoon. Faszinierend oder nicht, er ärgerte sich ein wenig über diese Yoda-ähnliche Art des Fragens. Warum hatte Pendergast ihn nicht schon früher in diese Überlegungen eingeweiht?