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Pendergast zog ein amtlich aussehendes Dokument aus der Mappe, mit zusätzlichen Seiten, die daran getackert waren. »Laut dem Rechtsmediziner Selbstmord durch Ersticken.« Er überflog das Schriftstück, nahm eine einzelne Röntgenaufnahme heraus und hielt diese ans Licht.

Coldmoon beugte sich näher heran und sah sich die Aufnahme gemeinsam mit Pendergast an.

»Einfache Fraktur des zentralen Zungenbeinkörpers«, sagte Pendergast. »Keine sichtbaren Schädigungen der Zungenbeinhörner, keine Hinweise auf einen Druck-Würgegriff.« Er ließ das Röntgenbild zurück auf die Mappe fallen und überflog rasch die nächsten Seiten.

»Was ist mit ihrem Ehemann, dem Marine?«, fragte Coldmoon. »Dem, der sie gefunden hat?«

Pendergast blätterte in den Seiten zurück. »Der Mann hatte kurz zuvor zwei Kriegseinsätze hinter sich. Der erste war im Irak, der vorzeitig endete, als er bei der Explosion einer Mine verwundet wurde. Das führte dazu, dass er für den zweiten Einsatz nach Okinawa versetzt wurde, wo er zur Militärpolizei des Marineinfanteriekorps versetzt wurde. Er kehrte via Militärtransport nach Miami zurück und begab sich auf direktem Weg zu seiner Wohnung – wo er seine Frau tot vorfand. Sie hatte sich erhängt, während er in Übersee war.«

Ein kurzes Schweigen entstand.

Coldmoon atmete tief durch. »Stellen Sie sich das mal vor – da kehrt man aus einem Kriegseinsatz für sein eigenes Land zurück – nicht einem, sondern zwei Einsätzen –, und dann wird man zu Hause auf diese Art willkommen geheißen.« Eine Pause. »Was ist mit dem Rest?«

Pendergast nahm mehrere zusammenhängende Seiten aus der Akte und begann, sie sich kurz anzusehen. »Offenbar hat der Ehemann, John Vance, nicht akzeptiert, dass seine Frau Selbstmord begangen haben soll. Er hat einige Zeit bei der Abteilung für die Ermittlung von Straftaten der Militärpolizei verbracht und darauf bestanden, dass sie einem Mord zum Opfer gefallen ist, der als Selbstmord inszeniert wurde.«

»Echt? Steht da drin, warum er das geglaubt hat?«

Pendergast las noch etwas weiter. »Er hat darauf beharrt und mehrere Briefe an die Polizei geschrieben, das Präsidium der Polizei Miami mehrfach persönlich aufgesucht. Seine Frau, so sagt er, sei nicht depressiv veranlagt, habe niemals suizidale Neigungen gezeigt, habe weder getrunken noch Drogen genommen und sich auf seine Rückkehr gefreut. Der Fall wurde länger offen gehalten als üblich – vermutlich eine Gefälligkeit angesichts des Umstands, dass er ein heimkehrender Kriegsveteran war. Aber die Polizei Miami hat sich geweigert, die Bestimmung der genauen Todesursache aufzuheben, mit der Begründung, dass die Obduktion und das forensische Beweismaterial überwältigend auf Suizid hinwiesen.«

Coldmoon warf einen Blick auf die letzten zusammenhängenden Seiten, die Pendergast in der Hand hielt: eselsohrig, schmutzig an den Rändern und mit handgeschriebenen Notizen, Seite für Seite mit dem Briefkopf der Polizei Miami versehen. Die Frau des Marine hatte sich umgebracht, unmittelbar bevor ihr Ehemann von seinem Kriegseinsatz zurückerwartet wurde? Warum hätte sie so etwas tun sollen … es sei denn, sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, wieder mit ihm zusammenzuleben. Oder, es sei denn, sie ist in Wahrheit tatsächlich ermordet worden.

»Vance hatte keine hieb- und stichfesten Beweise, dass es sich um Mord handelt.«

»Nicht, dass ich das erkennen kann. Er war allerdings Angehöriger der Militärpolizei.«

»Das verleiht ihm eine gewisse Glaubwürdigkeit.«

»So scheint es.«

»Also, was ist mit ihm passiert?«, fragte Coldmoon.

»Er hat die Polizei Miami weiter unter Druck gesetzt. In der Akte sind ziemlich viele Aktivitäten vermerkt. Es scheint, dass er verbittert wurde. Hier ist eine Notiz von einem Polizeipsychologen, in der es heißt, Vance habe die Wahrheit nicht akzeptieren können. Er ist schließlich aus der Stadt fortgezogen, in ein Jagd-Camp, das seit Jahrzehnten im Besitz seiner Familie war.«

»Und das war’s?«

»Nicht ganz.« Pendergast drehte ein neuer aussehendes Blatt Papier um, das an den letzten Satz von Seiten getackert war. »Er hat die Polizei Miami weiterhin bestürmt, indem er darauf bestand, neue Informationen über den ›Mord‹ an seiner Frau zu haben. Erst vor zwei Jahren hat die Polizei Miami jemanden zu dem Camp losgeschickt, um ein Folgegespräch mit ihm zu führen.« Er legte das Blatt beiseite. »Hier ist der Bericht.«

»Was steht drin?«

»Nichts Neues. Vance hat weiter darauf beharrt, es sei Mord gewesen, hat jedoch keine weiteren Beweise geliefert. Der Beamte schreibt, Vance’ Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, und er sei kaum noch mobil gewesen.« Er reichte diese letzten Seiten Coldmoon. »Offenbar hat dieses letzte Gespräch den Versuch dargestellt, den Mann zum Schweigen zu bringen. Und das scheint funktioniert zu haben, denn es ist das neueste und letzte Dokument in der Akte.«

»Vor zwei Jahren«, wiederholte Coldmoon. »Und er hat immer noch geglaubt, dass seine Frau damals ermordet wurde.«

Pendergast nickte.

»Erhängt mit einem geknoteten Bettlaken. Kein Selbstmordschreiben. Der Ort passt. Der Zeitrahmen stimmt. Der Militärpolizei-Ehemann war sicher, dass seine Frau ermordet wurde. Wissen Sie, ich glaube, es kann durchaus sein, dass es sich bei ihr um Opfer zero handelt.«

»Darf ich darauf hinweisen, dass es sich hier nicht um die erste Person handelt, der wir begegnet sind, die glaubte, dass ihr geliebter Mensch sich nicht das Leben genommen hat?«

»Sie sprechen von den Baxters. Und wir haben bewiesen, dass sie recht hatten.«

»Stimmt. Aber in diesem Fall – es sei denn, es entgeht mir da etwas – gibt es absolut keinen Röntgenbild-Beweis, dass die Frau mittels eines Druck-Würgegriffs ermordet wurde.«

Coldmoon blätterte in dem neuesten Gutachten. »Wenn eine gleichwertige Chance besteht, dass es sich bei ihr tatsächlich um Opfer zero handelt, sollten wir dieser Spur vielleicht nachgehen. Diesen Vance fragen, warum er immer noch so davon überzeugt ist, dass sie ermordet wurde.«

»Was wird er uns mitteilen, was er nicht schon der Polizei erzählt hat?«

»Sehen Sie sich einmal diese Vernehmung an«, sagte Coldmoon, hielt das Blatt hoch und warf es zurück in Richtung Pendergast. »Das ist alles pro forma. Die Cops haben bloß ein paar dumme Fragen gestellt. Ich finde, wir sollten losfahren und mit dem alten Kauz reden. Wir haben die Zeit. Grove wird uns erst am späten Nachmittag weitere Akten herüberbringen.«

Pendergast sah ihn an.

»Sind Sie anderer Meinung?«

»Überhaupt nicht. Ich habe wenig Interesse, herumzusitzen und auf die Nachrichten zu warten, dass Brokenhearts erneut gemordet hat. Ich stelle diese rhetorischen Fragen nur, weil Sie – da unser Freund Axel nicht zur Verfügung steht – fahren müssen.«

»Oh. Mist.« Das hatte Coldmoon ganz vergessen. »Wo wohnt der Mann noch mal gleich?«

»In einer Kleinstadt mit dem reizenden Namen Canepatch. Ungefähr hundert Kilometer westlich von hier.«

»Canepatch, Koksfelden. Logisch.« Coldmoon stand auf. »Wir können dorthin fahren und in drei Stunden, höchstens, wieder zurück sein. Hat doch keinen Sinn, herumzusitzen und zu warten. Es kann da auch nicht heißer sein als hier.«

»Das wird sich zeigen«, sagte Pendergast, der – nachdem er die einzelnen Seiten in die Aktenmappe zurückgelegt und diese an sich genommen hatte – vom Tisch aufstand und zur Tür ging.

39

In ihrem fensterlosen Büro neben dem Obduktionssaal öffnete Charlotte Fauchet abermals die Fächermappe mit der Aufschrift LAURIE WINTERS – nicht ohne schlechtes Gewissen. Sie hatte die Akte bereits gründlich durchgearbeitet, zusammen mit den Unterlagen zu Jasmine Oriol. Aber da hatte sie natürlich das Ganze aus dem Blickwinkel der Rechtsmedizinerin betrachtet. In der vorigen Nacht hatte sie zum zweiten Mal Mühe gehabt zu schlafen. Gewisse Dinge im nicht medizinischen Teil der Akten hatten ihr Kopfzerbrechen bereitet. Vielleicht lag das an ihrem Treffen mit Pendergast und Coldmoon im »Safe House«, die ihr Einblicke aus erster Hand in die investigativen Aspekte, wie man einen Mörder fasst, gewährt hatten. Möglicherweise hatte diese Detektivarbeit auf sie abgefärbt. Aber egal, jetzt, da sie in Urlaub war und keine nennenswerten Pläne hatte, hatte sie sich entschlossen, am Morgen im Büro vorbeizuschauen und die Akten gründlicher zu studieren.