»Halten Sie Ihre Hände jederzeit weit weg vom Körper und in Sicht«, befahl Grove kurz angebunden.
Langsam näherte sich das Propellerboot. Grove behielt die eine Hand am Steuerrad, mit der anderen zielte er mit dem Gewehr auf Pendergast. »Ihr FBI-Arschlöcher kommt hier runter, als wärt ihr das Manna vom Himmel. Dabei frage ich mich, ob ihr überhaupt wisst, was hier wirklich abläuft.«
»Jetzt weiß ich es«, sagte Pendergast.
Grove lenkte das Boot bis auf sieben Meter Entfernung heran und schaltete den Motor in den Leerlauf, nahm das Gewehr in beide Hände und hielt es ruhig auf Pendergast gerichtet.
»Und ich frage mich, ob Sie das verstehen.«
Grove lachte. »Ich hab’s zu neunzig Prozent begriffen – dank Ihnen und Coldmoon. Wie auch immer, wenn ihr beide tot seid, hab ich Zeit, den Rest des Puzzles zusammenzusetzen und die ganze Sache zu beerdigen. Es sei denn natürlich, Sie möchten ein paar Hinweise geben. Sie wissen schon, um mir auszuhelfen.«
»Mir wäre es lieber, Sie würden zunächst meine Neugier befriedigen«, sagte Pendergast. »Ich nehme an, dass Sie es waren, der die Vance-Akte manipuliert hat, um uns hier herauszulocken?«
Groves Unterlippe zuckte ein bisschen selbstzufrieden. »Sie sollten mir eine Medaille verleihen, weil ich herausgefunden habe, dass es John Vance war, der die ganze Sache in Bewegung gesetzt hat. Erst als der zweite Brief auf ein Grab gelegt worden war, habe ich meine Zweifel bekommen. Natürlich war es ein Kinderspiel, mich als ›Verbindungsbeamter‹ der Polizei in einen Fall einzumischen, in dem das FBI ermittelte – was ich aber nur getan habe, um die Sache zu kontrollieren. Und dann, nach dem dritten Brief, wusste ich, dass das alles mehr als Zufall war. Als ich ein bisschen nachgeforscht und erfahren habe, dass Vance tot war, umgekommen bei einem Verkehrsunfall, war ich wahnsinnig überrascht. Aber mir ist schnell klar geworden, dass es nur eine andere Möglichkeit gab.« Er schüttelte den Kopf. »Wer hätte gedacht, dass dieser Vance, dieser jämmerliche Amateur, zu einem Serienkiller heranwachsen würde?«
»Als Sie wussten, dass John Vance tot war, müssen Sie seine Sterbeurkunde aus der Akte rausgezogen haben. Und eine fiktive Vernehmung mit ihm hinzugefügt haben – eine, die uns direkt nach Canepatch geführt hat. Wo Sie dann auf uns gewartet haben.«
»Stimmt, das habe ich ziemlich schnell geregelt – seinen Sohn aus der Akte rauszunehmen, damit Sie keinen Verdacht schöpfen, und das gefälschte zwei Jahre alte Vernehmungsprotokoll hinzuzufügen. Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie mit Vance würden reden wollen.«
»Und er hätte mit Ihnen reden wollen. Schließlich haben Sie seine Frau umgebracht. Richtig?«
»Sie sind ja ein richtiger Schlaumeier. Aber nur, dass Sie Bescheid wissen – es war ein Unfall.«
»Ich nehme an, Sie hatten eine Affäre mit ihr. Der Ehemann kam aus einem Kriegseinsatz zurück, sie drohte damit, es ihm zu beichten, und Sie haben sie umgebracht, um sie zum Schweigen zu bringen und Ihre Karriere zu schützen. Weil Sie Polizist sind, haben Sie gewusst, was man tun muss, um es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen.«
»Ich habe gesagt, es war ein Unfall.«
»Natürlich war es das. Als selbst ernannter ehemaliger Detective der Mordkommission haben Sie das sicherlich schon viele Male gehört.« Plötzlich nahm Pendergasts Stimme einen hohen, weinerlichen Ton an. »Es war ein Unfall.«
Das selbstzufriedene Grinsen verschwand aus Groves Gesicht. »Fuck you –«
»Aber Lydias Ehemann, der bei der Militärpolizei war, hat geahnt, dass es sich um Mord handelt. Er besaß keine konkreten Beweise, er wusste es einfach. Er konnte die Polizei Miami nicht davon überzeugen – zweifellos, weil Sie hinter den Kulissen die Ermittlungen manipuliert hatten. Wie zum Beispiel, dass Sie Lydias potenziell belastende Röntgenaufnahmen durch jene eines anderen Selbstmordopfers ersetzt haben.«
Grove sah ihn nur wütend an.
»Clever von Ihnen war allerdings, dass Sie Vance’ ständige Belästigung der Polizei – echte Belästigung von einem Mann, der davon überzeugt war, dass seine Frau ermordet worden war – in der Akte gelassen haben. Das hat die Glaubwürdigkeit der Akte erhöht.«
»Wie schön, dass Sie es langsam begreifen. Aber egal, Vance ist schon lange tot. Jetzt, wo Sie und Coldmoon aus dem Weg geräumt sind, bleibt nur noch Mister Brokenhearts übrig. Sobald ich hier fertig bin, tu ich der Welt einen großen Gefallen und mach ihn kalt.«
»Wie nett von Ihnen – wenn man bedenkt, dass Sie ihn überhaupt erst geschaffen haben.«
»Quatsch!«
»Wohl kaum. Sie sind derjenige, der für die gesamte Kette der Morde verantwortlich ist. Mehr noch, Sie sind die ganze Zeit das primum mobile gewesen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Sie es jetzt wissen. Wie viele Morde genau gehen auf Ihr Konto? Zählen wir sie mal zusammen: Lydia Vance, Jasmine Oriol, Laurie Winters, Mary Adler, Elise Baxter, Agatha Flayley – und dabei sind noch nicht einmal die Frauen einberechnet, die Brokenhearts abgeschlachtet hat: Felice Montera, Jenny –«
»Ich sage Ihnen noch einmal, es ist ausgeschlossen, dass ich dafür verantwortlich bin. Lydia wollte sich in den Mund schießen, und ich habe nur versucht, vernünftig mit ihr zu reden, aber dann gab es ein Handgemenge und dann, na ja –«
Wieder brach die schrille Heulsusenstimme aus Pendergast hervor. »Ich habe nur versucht, vernünftig mit ihr zu reden, aber dann gab es ein Handgemenge und dann, na ja … habe ich sie erdrosselt.«
»Halt die Schnauze.«
»Im Gegensatz zu Ihren feigen Ausreden handelt es sich bei all diesen Morden um ein direktes Resultat Ihres Handelns, Commander, und Sie können gar nicht so dumm sein, das zu leugnen. Neun grausame, unnötige, sinnlose Morde.«
»Ich habe genug gehört.« Grove hob das Gewehr und zielte. Mit distanzierter Resignation nahm Pendergast wahr, wie der Abdruckfinger sich langsam krümmte. Er spannte die Muskeln an, bereit, in das strudelnde Wasser zu springen, im Wissen, dass es sich um eine nutzlose Geste handeln würde.
Aber jede Geste war besser als gar keine.
47
Während Pendergast sich für den finalen Sprung stählte, hörte er aus der Richtung des Boots einen Laut, einen dumpfen Aufprall. Groves Kopf schnappte nach vorn, als wäre er von hinten geschlagen worden. Sein Gewehr riss es nach oben, ein Schuss löste sich, die Kugel verfehlte ihr Ziel. Groves Gesichtsausdruck verwandelte sich, drückte plötzlich reines Erstaunen aus. Dann vollführte er eine Pirouette, die beinahe anmutig wirkte, und als sein Körper sich umdrehte, sah man den Griff eines Beils darin, die Klinge tief in die Rückseite seines Schädels gegraben. Einen Augenblick lang verharrte er, dann stürzte er kopfüber ins Wasser.
Wegen des Platschers, den Groves Leiche verursachte, und weil plötzlich neues Blut und Gehirnmasse im Wasser waren, entstand erneut wildes Strudeln. Ein Dutzend Alligatoren kamen zusammen, ihre Kiefer schnappten, die Schwänze schlugen, die Tiere packten die Leiche an allen Seiten und schüttelten sie hin und her.
Und jetzt sah Pendergast ein verbeultes Kajak, das hinter dem Propellerboot heranglitt. Ein junger Mann paddelte es, schlank und muskulös, mit kurz geschnittenem Haar und einem Grinsen, das wie für immer auf sein vernarbtes, schiefes Gesicht eingeprägt zu sein schien. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift WEIL ES BITTER IST. Er hob einen Arm, ein zögerlicher Gruß, entblößte die sehr rote Zunge zwischen schwarzen Zahnstümpfen. »Agent Pendergast? Ich bin’s.«
»Mister Brokenhearts.«
Pendergast schaute dem jungen Mann zu, der leicht zitternd in das Propellerboot im Leerlauf stieg und es zwischen der Masse aus Alligatoren hinüber zum Baumstumpf lenkte. Pendergast ging an Bord. Der junge Mann spuckte ins Wasser, auf die Meute der reißenden, sich windenden, zuschnappenden Alligatoren. Inzwischen lag ein langes Filetiermesser, dessen rasiermesserscharfe Klinge geschwärzt war, in seiner Hand.