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»Das also ist der Mann, der meine Mutter umgebracht hat. Ich hätte wissen müssen, dass es ein Cop ist. Ich bin Ihnen gefolgt, wissen Sie, seit ich Sie im Fernsehen gesehen habe –«

»Ich weiß«, unterbrach Pendergast und übernahm das Steuer. »Wir reden später darüber. Jetzt müssen wir weg von hier.«

»Nein. Nein, ich kann doch Archy nicht zurücklassen.«

»Wir haben keine Zeit.«

Der Griff um das Messer wurde fester, die Fingerknöchel wie weiß. »Aber Archy … nicht bei diesen Gators …!«

Pendergast drehte sich zu dem jungen Mann um und sah ihm fest in die Augen. »Indem Sie jenen Mann gestoppt haben, haben Sie ein Leben gerettet. Mein Leben. Jetzt haben Sie die Gelegenheit, ein zweites zu retten. Mein Partner befindet sich auf der Insel. Er ist angeschossen worden. Wir müssen zu ihm hin.«

Der junge Mann glotzte ihn an, die rot geränderten Augen weit aufgerissen. »Das interessiert mich nicht. Meine Mutter ist tot. Nichts – keiner von denen – hat sie mir zurückgebracht. ›Der Tod hat hundert Hände und geht auf tausend Wegen.‹«

»Flüchten Sie sich nicht in die Literatur. Das ist feige, und Sie sind kein Feigling. Das hier ist die wirkliche Welt – in der wirkliche Menschen leben, verletzt werden und sterben.«

»Ja. Und Gewalt ist die einzige Antwort.«

»Hat Gewalt sich für Sie ausgezahlt? Haben Sie schon Abbitte geleistet? Fühlen Sie sich geheilt?« Er senkte die Stimme. »Glauben Sie mir, ich kenne mich mit Gewalt aus.«

Brokenhearts starrte ihn weiter an, sein missgestaltetes Gesicht zuckte, zeigte den Widerstreit seiner Gefühle.

»Hat Gewalt Ihnen Ihre Mutter zurückgebracht – gleichgültig, wie oft Ihr Vater es versucht hat? Und was hat die Gewalt mit Ihnen getan? Gewalt ist eine Antwort, aber sie ist die letzte Antwort.«

Ein klagender Laut der Verzweiflung drang aus dem Mund des jungen Mannes.

»Fühlen Sie den Schmerz von anderen, den Sie verursacht haben, durch Gewalt. Fühlen Sie den Verlust, die Angst und den Kummer. Das ist der Beginn der Abbitte.« Er senkte die Stimme. »Ich hatte das Gefühl, dass Sie mich beschatten. Zumindest habe ich gehofft, dass Sie es tun. Und nun stehen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Über den Rest entscheiden Sie.« Er hielt Brokenhearts die Hand hin. »Aber zuerst – das Messer.«

Einen Moment lang regte sich der junge Mann nicht. Dann streckte er die Hand aus, und Pendergast nahm es ihm sanft ab. Nachdem er es eingesteckt hatte, drehte er sich sofort um und schob den Gashebel nach vorn, wodurch das Propellerboot mit lautem Dröhnen anfuhr. Er steuerte es den Kanal hinunter auf die Anlegestelle zu, setzte das Boot auf den Schlamm, dann sprang er heraus und stürmte durch das Unterholz in Richtung Erdloch. Sechzig Sekunden später traf er an dem klaffenden Krater ein – und dort war Coldmoon, auf dem Boden, er klammerte sich mit letzter Kraft an eine frei liegende Wurzel, kaum bei Bewusstsein und kaum fähig, den Kopf über Wasser zu halten. Rings um ihn herum schwammen mehrere erregte Wassermokassinottern in dem blutigen, trüben Wasser.

»Halten Sie sich fest!« Pendergast fasste eine Wurzel und warf sie in die Grube, kletterte hinunter, von einem Haltegriff zum nächsten, so schnell er konnte. Als er den Boden erreicht hatte, stieß er sich mit den Füßen ab, dabei die Schlangen ignorierend, und war nach zwei Schwimmzügen bei Coldmoon. Er packte ihn mit beiden Händen um die Brust, hielt seinen Kopf über Wasser und arbeitete sich wieder zum Rand des Erdlochs. Als er hochschaute, erblickte er am Rand der Grube Mister Brokenhearts’ Gesicht, das ausdruckslos zu ihnen herabsah.

Pendergast packte eine Wurzel, umfasste Coldmoon fester und begann, ihn den glatten, schlammigen Hang hochzuziehen. Dabei fand er Stellen, an denen er mit Händen und Füßen Halt fand, spannte jeden Muskel an. Noch ein Tritt, noch ein Hochziehen, noch eine geballte Wurzel. Mit den Kräften fast völlig am Ende, näherte er sich dem oberen Rand des Kraters.

»Reichen Sie mir die Hand«, stieß er keuchend hervor.

Mister Brokenhearts sah nach unten, seine Gesichtszüge vor Unentschlossenheit verzerrt. Er blickte nach links, dann nach rechts, als wollte er weglaufen. Das Propellerboot lag am Anlegesteg. Es bot eine ideale Fluchtmöglichkeit.

»Sie können fliehen«, sagte Pendergast, während er sich abmühte. »Aber das werden Sie nicht tun – jedenfalls nicht, wenn Sie wahrhaft Abbitte leisten wollen.«

Brokenhearts streckte den Arm aus und ergriff mit der einen Hand Coldmoons Arm, mit der anderen Pendergasts, und half, beide Männer hoch und über die Kante zu ziehen. Coldmoon blieb auf dem Rücken liegen, zwischen den zerdrückten Farnpflanzen. Pendergast nahm seinen Puls, überprüfte die Atmung und untersuchte ihn schnell. Coldmoon war angeschossen, möglicherweise von Schlangen gebissen, seine Atmung war eingeschränkt, weil er Wasser in die Lunge bekommen hatte. Pendergast wälzte ihn auf die Seite und schlug ihm auf den Rücken, schüttelte ihn heftig. Coldmoon hustete, Wasser und Blut liefen ihm aus dem Mund. Er röchelte laut. Pendergast vermutete, dass seine Lunge kollabiert war – mindestens.

»Helfen Sie mir, ihn zum Boot zu bringen.«

Mit Brokenhearts’ Hilfe zog und trug Pendergast seinen Partner zum Propellerboot. Dort legte er ihn auf den Rücksitz, wobei er eine Rettungsweste zum Kissen umfunktionierte, und legte eine Bootsplane über ihn. Dann packte er das Steuerrad und ließ den Motor aufheulen. »Stoßen Sie uns ab.«

Brokenhearts schob das Boot an, raus aus dem Schlamm, sprang wieder hinein und suchte sich einen Platz am Bug, während Pendergast das Steuer herumschwang und mit hoher Geschwindigkeit zurück in Richtung Paradise Landing fuhr. Dabei lenkte er in rasender Fahrt zwischen den Sumpfzypressen und dem Sägegras hindurch, während das Boot ein riesiges Kielwasser aufwarf und er sein Bestes gab, dass der Boden nicht an den unter Wasser liegenden Mangrovenwurzeln aufriss.

Nachdem sie am Anlegesteg angekommen waren, sprang Pendergast aus dem Boot und lief zum Mustang, riss die Tür auf, griff nach dem Funkgerät, setzte eine »Agent verletzt«-Nachricht ab und gab die Koordinaten durch. Nachdem das erledigt war, lief er zum Boot zurück, beugte sich über Coldmoon und untersuchte ihn noch einmal, diesmal gründlicher. Coldmoon war kaum noch am Leben, hatte einen schnellen, schwachen Herzschlag, aber er atmete noch. Seine Haut fühlte sich kalt und feucht an. Die Schusswunde blutete, aber nicht stark – der Großteil der Blutung war sicherlich innerlich. Besser war es, ihn nicht noch mehr zu stören, sondern ihn so liegen zu lassen, bis die Sanitäter eintrafen.

»Kann … ich noch mehr helfen?«, fragte Brokenhearts.

»Ja.« Pendergast griff nach Coldmoons Gürtel, machte ein Paar Handschellen los und warf sie Brokenhearts zu. »Legen Sie sich die hier an. Sie sind verhaftet.«

Einen Moment lang hantierte der junge Mann mit den Handschellen, ehe er dahintergekommen war, wie man sie sich um die Handgelenke legte. »Es tut mir leid«, sagte er, während die Worte jäh aus ihm heraussprudelten. »Ich weiß, dass Sie mich verstehen. Das haben Sie in der Fernsehshow gesagt, als Sie den Leuten erklärt haben, dass ich kein Monster bin. Aber selbst Sie können nicht ermessen, wie tief mein Kummer ist. Ich meine, was Sie da sagten – über Gewalt, über Abbitte.« Der jähe Strom der Worte versiegte für einen Moment. »Ich kann meine Trauer einfach nicht in Worte fassen. Ich hab’s versucht, aber ich kann es nicht. Aber Stephen Crane konnte es. Ich könnte Ihnen etwas vorlesen –«

»Später«, sagte Pendergast ruhig. Er legte die Plane fester um Coldmoon, während das leise Geräusch eines herannahenden Hubschraubers von hinter den Bäumen zu ihnen drang.

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