Henry Miller schrieb einmaclass="underline" »Erst wenn wir uns mit der Tatsache abfinden, dass das Leben selbst im Geheimnis gründet, werden wir etwas lernen.« Vielleicht können wir also nichts weiter tun, als den Umstand zu akzeptieren, dass diese Tragödie geschehen ist, und hoffen, dass durch eine solche Annahme das Verstehen am Ende folgen wird.
»Mussten Sie wirklich Henry Miller zitieren?«, ertönte eine angenehm wohlklingende Stimme über Smithbacks Schulter. »Sie setzen ein schlechtes literarisches Zeichen für den Herald – und heutzutage brauchen Zeitungen alle Hilfe, die sie bekommen können.«
Smithback drehte sich auf seinem Stuhl um und sah Agent Pendergast, der sich über ihn gebeugt hatte. Er hatte sich derart leise herangeschlichen, dass Smithback keine Ahnung hatte, wie lange er dort gestanden hatte. »Mann, ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen.«
»Ich habe häufig diese Wirkung auf Menschen.« Pendergast schaute sich um in dem halb leeren Newsroom, dann setzte er sich, legte ein schwarz gekleidetes Knie über das andere und betrachtete den Journalisten gelassen. »Ihr Bruder hätte den Artikel inzwischen schon zu Ende geschrieben.«
»Das stimmt vermutlich. Aber Bill war ja auch keiner, der sich durch die Fakten von einer guten Geschichte abhalten ließ.«
»Hinsichtlich welcher Fakten sind Sie denn besonders unsicher?«
Smithback betrachtete den FBI-Agenten mit leicht zusammengekniffenen Augen. Er hatte Pendergast seit vielleicht zwei Wochen nicht mehr gesehen. Was führte er im Schilde? »Soll das ein Witz sein? Ich meine, wo soll ich anfangen? Wann wird Brokenhearts endlich erklären, warum zum Teufel er das getan hat?«
»Er hat bereits alle Erklärungen gegeben, die wir uns erhoffen konnten. Er hat gestanden, die drei aktuellen Morde in Miami begangen zu haben, wie auch, an den alten Morden/Selbstmorden beteiligt gewesen zu sein. Er hat außerdem Commander Grove getötet.«
»Warum? Was hat Grove ihm angetan?« Smithback hielt inne, dachte nach. »Hatte Grove … etwas mit dem Tod seiner Mutter zu tun?«
Wieder Stille.
»Warten Sie, hat Grove seine Mutter Lydia damals vor zwölf Jahren umgebracht? Unmittelbar bevor der Vater von einem Kriegseinsatz zurückgekehrt ist?«
Pendergast lächelte nur.
»Verstehe. Der Vater war kurz davor, ihr kleines Liebesnest auszuheben. Vermutlich ist der Streit dann eskaliert. Stimmt’s?«
»Man könnte das als vernünftige Annahme bezeichnen.«
»Vance ahnte, dass es sich beim Tod seiner Frau um Mord handelte, der wie Selbstmord aussehen sollte. Aber die Cops haben das nicht geglaubt. Grove muss alles getan haben, was er konnte, um den Deckel auf den Ermittlungen zu halten.«
»Reden Sie weiter.«
»Also. Warum hat Ronalds Vater all diese Morde an Frauen so inszeniert, dass sie wie Selbstmorde aussahen?«
»Warum, in der Tat? Was hatten diese Morde gemeinsam?«
»Die Frauen wurde alle auf die gleiche Weise wie Lydia Vance getötet – Mord, der so aussehen sollte wie Selbstmord –, und zwar durch Erhängen mit einem geknoteten Seil.«
»Was sonst noch?«
»Alle Frauen stammten aus Florida.«
Pendergast verschränkte die Arme und musterte Smithback mit einem Blick aus seinen blassen Augen. Er wartete.
»Etwas, das die Cops aber doch gesagt haben, war, dass John Vance’ erster Kriegseinsatz in der Golfregion durch eine Straßenbombe vorzeitig beendet wurde. Darum diente er bei seinem zweiten Einsatz bei der Militärpolizei. Als er heimkam und seine Frau tot vorfand und die Cops ihn ignorierten, ist er durchgedreht. Da hat er angefangen, Frauen aus Miami in anderen Teilen des Landes zu töten, und zwar auf exakt die gleiche Weise, wie seine Frau ermordet wurde. Ein mörderischer Roadtrip, mit seinem Jungen als Beifahrer.«
Ein leichtes Nicken. »Zu welchem Zweck?«
Smithback kratzte sich nachdenklich die Wange. »Vielleicht … vielleicht hatte er die Absicht, am Ende zu gestehen, was er getan hatte, und die Polizei Miami zu demütigen, indem er ihre Inkompetenz bloßstellt. Aber warum ist er dann überall in der Gegend herumgefahren? Wieso die Morde nicht hier in Florida inszenieren?«
»Unterschätzen Sie den Mann nicht. Mag sein, dass er ein abartiges, rachsüchtiges Verlangen danach verspürte, die Polizei Miami vorzuführen, aber er wollte es ihr nicht allzu leicht machen – so leicht, dass er, sagen wir, gefasst wurde, bevor er fertig war.«
»Das ergibt Sinn. Morden als Katharsis. Und als er zufrieden war, hatte er einen angemessen erfreulichen Weg gefunden, die Polizei Miami durch den Dreck zu ziehen, weil sie das Tatmuster nicht erkannt hatte. Außer dass seine Pläne durch den tödlichen Autounfall durchkreuzt wurden.«
»Nicht schlecht. Dafür bekämen Sie in einem Journalistik-Kurs wohl ein Befriedigend. Aber Sie beantworten nicht die Fragen, die Sie in Ihrem eigenen Artikel stellen. Worin bestand die zwischenmenschliche Dynamik zwischen Vater und Sohn?«
Smithback überlegte. »Die Cops sagen, dass der Sohn, Mister Brokenhearts, den letzten Mord gestanden hat – den in Ithaca auf der Brücke. Anscheinend hat sein Vater ihn ermahnt, dass es an der Zeit ist, sich der Herausforderung zu stellen, ein Mann zu sein.«
»Glauben Sie, dass er das wollte?«
Eine längere Pause. »Nein.«
»Also, folgen Sie dieser Spur bis zum Ende. Warum haben die Morde aufgehört?«
»Das habe ich doch eben gesagt. Wegen des Autounfalls eine Woche darauf.«
Wieder blickte Pendergast ihn aus diesen silbrigen Augen an.
»Warten Sie mal. Glauben Sie … Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass der Unfall mit Absicht herbeigeführt worden ist? Dass Ronald das alles nicht mehr ertrug und die ganze Sache stoppen wollte … und versucht hat, sie beide selbst zu ermorden? Aber er war nicht einmal alt genug, um fahren zu dürfen!«
Pendergast schwieg.
»Das hätte keine Rolle gespielt – er war alt genug, den Arm auszustrecken und im richtigen Moment das Lenkrad zu packen.« Jetzt dachte Smithback schnell. »Sein Dad ist bei dem Unfall ums Leben gekommen … aber er nicht. Schlimm genug, dass seine Mutter ermordet worden war. Er hatte diese unschuldigen Frauen nicht töten wollen. Doch er war jung. Jung, verwirrt und geistesgestört. Und er wurde bei dem Unfall verletzt, schwer verletzt.«
»Schädel-Hirn-Trauma. In diesem Zusammenhang könnten Sie den Nachruf seines Vaters möglicherweise sehr erhellend finden. Nicht den Nachruf, der in dem Scrantoner Lokalblatt erschien, sondern den im Greater Pittston Eagle, der Zeitung für eine Gegend, die dem Unfall näher lag. Es ist eigentlich kein richtiger Nachruf, sondern eher ein Artikel, der über den Unfall berichtet und ziemlich drastisch ist in seiner Aufmerksamkeit fürs Detail. John Vance starb, weil er von der Lenksäule aufgespießt wurde. Anscheinend wurde der Brustkorb des Mannes eingedrückt, und die Lenksäule hat sein Herz durchbohrt. Der Sohn war mit seinem Vater über vierzig Minuten lang in dem Autowrack eingeschlossen, bis er schließlich mit einer Rettungsschere daraus befreit wurde.«
»O Gott«, sagte Smithback. Er war geschockt, doch er dachte immer noch schnell. »Also wurde er in ein Krankenhaus gebracht – und blieb stationär in Krankenhäusern und psychiatrischen Einrichtungen, bis er das Erwachsenenalter erreichte. Die Ärzte haben seine Delirien, wenn es denn welche gab, vermutlich als Nebeneffekt des Schädel-Hirn-Traumas gedeutet. Aber in Wirklichkeit hat ihn die ganze Zeit gequält, was er getan hatte. Daher das Verlangen, Abbitte zu leisten. Stimmt’s?«