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«Genau.«

«Aber bevor wir reingehen, trinken wir noch einen Sekt. «Sodbrennen erscheint ihr schon den ganzen Abend als das kleinste aller Übel.

«Zwei.«

«Aber nicht, dass du dich … Ich meine, du musst noch fahren.«

«Ich bin einiges gewohnt. Keine Sorge. «Karin Preiss nimmt die rechte Hand vom Lenkrad und legt sie auf Kerstins Knie.»Bergenstädter Naturgewächs.«

Der Eindruck von Wärme sickert noch durch den Satin-Stoff ihres Kleides, als die Hand schon wieder das Steuer umklammert. Für einen Moment begleitet ein neugieriger Kitzel die Vorstellung, Karin Preiss in den Armen eines fremden Mannes zu beobachten, irgendeines Kerls, dessen Gesten man ablesen kann, dass er möglichst schnell zur Sache kommen will. Dann fährt sie sich mit den Handflächen über die Gänsehaut auf ihren Oberarmen und sieht wieder aus dem Fenster. Die Schallschutzmauer endet an einem Brückenpfeiler, dann beginnt eine dunkle Böschung. Reklameschilder werfen ihr Neonlicht in die Nacht. Das Problem ist, dass sie sich selbst zu genau beobachtet. Die ganze Woche über hat sie nach jenem verborgenen Grund gefahndet, der sie bei allem Widerstreben davon abhält, auf diese Fahrt nach Nieder-Enkbach zu verzichten. Bis auf die Woche genau hat sie das Datum ihres letzten Geschlechtsverkehrs ermittelt. Hat die Entwicklung ihrer Libido seit jenem Abend nachzuvollziehen versucht und festgestellt, dass ab einem bestimmten Maß an Frustration das Lustempfinden selbst kränkend wirkt und von da an das Verlangen in abebbenden Wellenbewegungen verläuft, bis es schließlich weder abgestorben noch am Leben ist, sondern erstarrt, wie eingefroren. Vermutlich derselbe Punkt, an dem sie begonnen hat, Wut auf Jürgen nur noch zu empfinden, wenn er vor ihr stand, um stattdessen einen geschärften Sinn für ihren Hang zum Selbstmitleid zu entwickeln. Außerdem eine Freude an Blumen, die auch nicht ganz gesund sein kann.

Seit einer Woche gleichen ihre Gedanken einem Wühlen in Vergangenheiten, die nicht vergehen wollen, sondern sich mit der Hartnäckigkeit letzter Partygäste in ihrem Gedächtnis halten. Diese zweite Veilchensendung hat aus den früheren sporadischen Attacken von Lust etwas Beständigeres und gleichzeitig Sanfteres gemacht, etwas worüber sie sich freut und worunter sie trotzdem leidet. Denn warum ruft er nicht an? Ist er tief in seinem Herzen kein erfahrener, geduldiger Romantiker, sondern ein verstörter Irrer, der seine ihm selbst unverständlichen Spielchen mit ihr spielt? Will er sie weichklopfen, oder hat er kalte Füße bekommen? Das Abflachen der Böschung gibt den Blick frei auf eine wenig imponierende Stadtkulisse, eine Ansammlung von Lichtern ohne Zentrum. Was im Süden als bleicher Halbkreis am Horizont steht, ist vielleicht schon der nächtliche Widerschein über Frankfurt, und sie hätte Karin gerne gebeten, einfach weiterzufahren, an der nächsten Ausfahrt vorbei, an Frankfurt vorbei, immer weiter und irgendwann wieder zurück.

Sie trägt das schwarze Cocktailkleid, an dessen Existenz Karin Preiss sie vor zwei Wochen erinnert hat, als sie versuchte, ihre taillenlose Figur in ein ganz ähnliches Modell zu zwängen. Aus einer Laune heraus hat sie es anprobiert, für den Fall, dass Änderungen erforderlich gewesen wären, denn dann hätte sie es am Nachmittag zusammen mit dem anderen, das sie inzwischen ganz unverblümt ihr ›Elternsprechtagskleid‹ nennt, zur Schneiderei Yilmaz gebracht. Aber das war nicht notwendig. Wie eine zweite Haut schmiegt sich der schwarze Stoff an ihre Figur. Ein Anflug von Neid in Karin Preiss’ Blick ist ihr nicht entgangen. Und die Antwort auf die Frage, warum sie sich in diesem Moment auf dem Weg nach Nieder-Enkbach befindet, hat genau damit zu tun: dem Wissen, immer noch eine begehrenswerte Frau zu sein, und der Angst, dass Thomas Weidmann ihren Wert nicht erkannt hat und kein Verlangen empfindet.

Aber noch eine Woche warten? Eher legt sie ihm Blumen vor die Tür. Mit Karte und unterschrieben: Anbei Gruß zurück.

Sie folgen der abwärtsführenden Kurve der Autobahnausfahrt und dem belanglosen Wortwechsel zwischen dem HR-3-Moderator und der nächsten Hörerin. Die Scheinwerfer streifen Bäume am Fahrbahnrand. Je langsamer und wortkarger die Fahrt wird, desto stärker scheint die Stille draußen gegen die Scheiben zu drücken. Auf dem nächsten Verkehrsschild entdeckt Kerstin den Lustkurort Nieder-Enkbach, dann stehen sie vor der roten Ampel einer Landstraße, auf der kein Auto unterwegs ist.

«Ich muss mal«, sagt sie.

«Ich auch.«

«Ich glaube, wir machen keinen guten Eindruck, wenn wir da reingehen und als Erstes auf dem Klo verschwinden. «Sie hat auch keine Lust, sich die Toiletten ›da‹ vorzustellen.

«Nein.«

Die Ampel wird grün, und Karin Preiss fährt so langsam los, als sei sie auf der Suche nach einem Parkplatz. Sie unterqueren die Autobahn, die Straße wirkt plötzlich sehr schmal, und hinter den Hecken am Straßenrand erstrecken sich dunkle Felder, dann Lichter, die vage Formation einer Ortschaft.

«Du meinst — hier?«

«Rastplätze kommen keine mehr. «Karin Preiss bleibt im zweiten Gang, achtet nicht auf das langgezogene Hupen, mit dem der erste Wagen an ihnen vorbeiprescht.»Irgendein Feldweg. Sind wir überhaupt richtig abgebogen gerade?«

«Wie man’s nimmt.«

Diesmal unterdrückt Karin ihr Stöhnen nicht:

«Zum letzten Mal, Kerstin: Wir machen das jetzt.«

Siehst du, der Punkt ist, hätte sie gerne gesagt: Wir sind aus dem Alter raus, wo man etwas ›einfach so‹ macht. Wir sind erwachsen, wir haben zu viele Rechnungen gesehen, um an Gratisangebote zu glauben. Aber es ist sinnlos. Und übrigens fällt es ihr jedes Mal auf, wenn Karin Preiss sie mit dem Vornamen anspricht, es klingt ungewohnt und wie eine Erinnerung daran, dass sie einander noch immer kaum kennen. Nein, das hier ist keine Neuauflage des legendären 80er-Jahre-Duos Anita & Kerstin, sondern eine improvisierte, aus der Not geborene Nummer: Doña Quixote am Steuer und Sancha Pansa auf dem Beifahrersitz. Letztere hat die Wegbeschreibung inzwischen so zugerichtet, dass sie am Ende nach dem Weg zu diesem Bumslokal werden fragen müssen.

«Wir machen das«, sagt sie,»aber vorher hocken wir uns in Ruhe ins Gebüsch.«

«Genau. «Anita hätte gesagt: Schon besser, Schätzchen.

Nach weiteren hundert Metern Schleichfahrt zweigt ein Feldweg von der Landstraße ab, führt in eine Senke und verschwindet hinter dichtem Gesträuch. Karin Preiss folgt ihm eine Autolänge, bis die Kühlerhaube sich abwärtsneigt und die Scheinwerfer eine grüne Blätterwand anstrahlen. Dann stellt sie den Motor ab, und es ist, als fiele ihnen die Dunkelheit mit einem hohlen Plopp aufs Autodach.

«Besser, ich lass den Wagen hier oben stehen. «Karin öffnet die Fahrertür und beugt den Oberkörper hinaus.»Schuhe anziehen oder auslassen?«

Kühler als erwartet kriecht die Nacht herein. Das Licht im Innern macht die Dunkelheit draußen nur noch dichter. Vom Rauschen der Autobahn abgesehen, hängt Stille über der flach ausgestreckten Landschaft, außerdem ein schwacher Geruch von Jauche.

«Kommt drauf an, wie nah du den Kuhmist an dich ranlassen willst. «Kerstin lässt ein Auto oben an der Landstraße passieren, bevor sie aussteigt. Der Boden des Feldwegs ist holperig, aber trocken. Sie streicht ihr Kleid glatt und folgt ihrer Nachbarin, die bereits das Ende der Senke erreicht hat und sich suchend umblickt. Ein Hauch von Komödie schwebt über der Szenerie, eine Mischung aus Schülerstreich und Provinzposse. Sie könnte sich jetzt zum Beispiel einen ihrer hohen Absätze abbrechen, den Feldweg hinabkugeln und in einer Viertelstunde einem Landarzt erklären müssen, warum man nachts in Cocktailkleidern über Weiden läuft. Oder ein Auto hält am Straßenrand, und ein besoffenes Kreisklasse-Team spendet ihnen Applaus beim Pinkeln. Oder sie werden vergewaltigt, und im nächsten Dorf hört sich ein vom Fernseher weggerufener Polizist ihre Geschichte an und sagt: Gell, so was Ähnliches hatten Se ja sowieso vor. Oder, oder, oder. Dieser Ödnis um sie herum wäre alles recht. Am Nachmittag, nach dem Besuch im Krankenhaus, ist sie in die Stadt gefahren zur Schneiderei Yilmaz. Fast eine halbe Stunde hat das gedauert, weil auf dem Marktplatz alle Leute verrücktspielten am helllichten Tag, Fahnen schwenkten aus den Fensteröffnungen ihrer Autos und Schlachtgesänge anstimmten, von We are the Champions bis So ein Tag … Das Spiel hat sie verpasst, aber offenbar haben die Deutschen gewonnen.