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In dieser Nacht hatte Nirgal die übliche Mühe einzuschlafen. Ektogene, transgen … das gab ihm ein komisches Gefühl. Weiß und Grün in ihrer Doppelhelix… Stundenlang warf er sich herum und fragte sich, was das ihn plagende Unbehagen bedeutete und was er fühlen sollte.

Endlich sank er erschöpft in Schlaf. Und dann hatte er einen Traum. Vor dieser Nacht hatte er stets von Zygote geträumt, jetzt aber träumte er, in der Luft über die Oberfläche des Mars zu fliegen. Große rote Schluchten durchschnitten das Land, und Vulkane ragten in der Nähe zu unvorstellbarer Höhe auf. Aber hinter ihm war etwas, das größer und schneller war als er, mit Flügeln, die laut schlugen, als die Kreatur aus der Sonne kam, große Krallen nach ihm ausgestreckt. Er zeigte auf dieses fliegende Wesen, und aus seinen Fingerspitzen schössen Garben von Blitzen, die das Wesen abdrehen ließen. Es stieg zu einem neuen Angriff auf, als er sich wach rüttelte. Seine Finger pulsierten, und sein Herz klopfte wie die Wellenmaschine, ka-thunk ka-thunk, ka-thunk.

Gleich am nächsten Nachmittag erzeugte die Maschine zu große Wellen, wie es Jackie ausdrückte. Sie spielten am Strand und dachten, sie hätten die großen Brecher gemessen; aber dann erhob sich eine wirklich große Woge über das Eisfiligran, warf Nirgal auf die Knie und riß ihn mit unwiderstehlichem Sog das Ufer hinunter. Er strampelte und schnappte nach Luft, als er in das schrecklich kalte Wasser fiel, konnte aber nicht entkommen und wurde hinabgezogen. Dann rollte er hart im Ansturm der nächsten hereinkommenden Welle. Jackie packte ihn am Arm und Haar und zog ihn wieder ans Ufer. Harmakhis half beiden wieder auf die Füße und rief: »Seid ihr okay?« Wenn man naß wurde, galt die Regel, so schnell ins Dorf zu laufen, wie man konnte. Darum machten sich Nirgal und Jackie auf und rannten über die Dünen und den Weg zum Dorf. Der Rest der Kinder trödelte weit hinterher. Der Wind schnitt ins Mark. Sie liefen direkt zum Badehaus, platzten durch die Türen und streiften mit klammen Händen ihre Kleider ab. Dabei halfen ihnen Nadia und Sax und Michel, die darin beim Baden gewesen waren.

Als sie in die seichten Stellen des großen kommunalen Bades gescheucht wurden, erinnerte Nirgal sich an seinen Traum und sagte: »Wartet, wartet!«

Die anderen blieben verwirrt stehen. Er schloß die Augen und hielt den Atem an. Dann ergriff er Jackies kalten Unterarm. Er sah sich wieder in dem Traum und fühlte, wie er durch den Himmel schwamm. Wärme von den Fingerspitzen. Die weiße Welt in der grünen.

Er suchte nach der Stelle in der Mitte, die immer warm war, selbst jetzt, wo er so fror. Sie würde immer da sein, so lange er lebte. Er fand sie und trieb sie mit jedem Atemzug durch sein Fleisch nach außen. Das war hart, aber er fühlte, wie es funktionierte, die Wärme aus seinen Rippen wie ein Feuer ausströmte, seine Arme hinunter, seine Beine hinunter, in seine Hände und Füße. Seine linke Hand streckte er nach Jackie aus. Er betrachtete ihren nackten Körper mit der Gänsehaut und konzentrierte sich darauf, die Wärme in sie hinein zu schicken. Er zitterte jetzt leicht, aber nicht von der Kälte.

»Du bist warm«, rief Jackie.

»Fühle es!« sagte er zu ihr; und sie lehnte sich einige Momente an seinen Griff. Dann riß sie sich mit erschrockenem Gesicht los und ging in das Bad hinunter. Nirgal blieb am Rande stehen, bis sein Beben aufhörte.

»Weißt du, wie du das machst?« fragte ihn Sax. Er, Nadia und Michel sahen Nirgal mit einer merkwürdigen Miene an, der er nicht begegnen wollte.

Nirgal schüttelte den Kopf. Er setzte sich völlig erschöpft auf die Betoneinfassung des Bades und steckte die Füße ins Wasser, das sich wie flüssiges Feuer anfühlte. Fisch im Wasser, sich frei schwappend, draußen in der Luft, das Feuer im Innern, Weiß im Grün, Alchemie, hochsteigend mit Adlern… Blitze aus seinen Fingerspitzen!

Die Leute sahen ihn an. Sogar die Zygoten warfen ihm von der Seite Blicke zu, wenn er lachte oder etwas Ungewöhnliches sagte, und sie dachten, daß er das nicht sehen würde. Am einfachsten war es, so zu tun, als ob er es nicht bemerkte. Aber das war schwierig bei den gelegentlichen Besuchern, die direkter waren. »Oh, du bist Nirgal«, sagte eine kleine rothaarige Frau. »Ich habe gehört, daß du ein aufgeweckter Junge bist.« Nirgal, der ständig an die Grenzen seines Verstehens stieß, errötete und schüttelte den Kopf, während ihn diese Frau ruhig ansah. Sie bildete sich ein Urteil, lächelte und schüttelte ihm die Hand. »Ich freue mich, dich kennenzulernen.«

Eines Tages, als sie zu fünft waren, brachte Jackie ein altes Notizbuch mit zur Schule, an einem Tag, da Maya unterrichtete. Sie ignorierte Mayas scharfen Blick und zeigte es den anderen. »Das ist aus dem Intelligenten Computer meines Großvaters. Darin steckt eine Menge von dem, was er gesagt hat. Kasei hat es mir gegeben.« Kasei war dabei, Zygote zu verlassen, um einen der anderen Zufluchtsorte aufzusuchen. Aber nicht jenen, wo Esther lebte.

Jackie stellte das Gerät an. »Pauline, spiel uns etwas von dem noch einmal vor, das mein Großvater gesagt hat!«

»Nun, da sind wir«, sagte eine männliche Stimme.

»Nein, etwas anderes. Wiederhole etwas, das er über die verborgene Kolonie gesagt hat!«

Die männliche Stimme sagte: »Die verborgene Kolonie muß noch Kontakte zu Siedlungen an der Oberfläche haben. Es gibt zu viele Dinge, die sie nicht im Versteck herstellen können. Ich denke zum Beispiel an Reaktorbrennstäbe. Die werden sehr gut kontrolliert; und es könnte sein, daß Aufzeichnungen uns verraten, wohin sie verschwunden sind.«

Die Stimme hielt an. Maya wies Jackie an, das Gerät weg zu tun, und fing mit einer weiteren Geschichtslektion an, worin so kurz und rauh auf russisch über das neunzehnte Jahrhundert gesprochen wurde, daß ihre Stimme zitterte. Und dann weiter Algebra. Maya legte großen Wert darauf, daß sie sehr gut ihre Mathematik lernten. Mit finsterem Kopfschütteln pflegte sie zu sagen: »Ihr bekommt eine fürchterliche Erziehung. Aber wenn ihr eure Mathematik lernt, könnt ihr später aufholen.« Dann sah sie sie scharf an und verlangte die nächste Antwort.

Nirgal starrte sie an und erinnerte sich daran, als sie seine Böse Hexe gewesen war. Es wäre seltsam, hier zu sein, manchmal so grimmig und manchmal so fröhlich. Wie bei den meisten Leuten in Zygote konnte er sie ansehen und fühlen, wie es wäre, wenn er sie wäre. Er konnte es in ihren Gesichtern sehen, genau so wie er die zweite Farbe innerhalb der ersten sehen konnte. Das war eine Begabung, ähnlich seinem überscharfen Temperaturempfinden. Aber er verstand Maya nicht.

Im Winter machten sie Beutezüge auf die Oberfläche zu dem nahe gelegenen Krater, wo Nadia eine Unterkunft baute, und zu den mit Eis übersäten Dünen dahinter. Aber wenn sich die Nebeldecke hob, mußten sie unter der Kuppel bleiben oder durften höchstens bis zur Fenstergalerie gehen. Man durfte sie nicht von oben sehen. Niemand war sicher, ob nicht etwa die Polizei aus dem Weltraum aufpaßte, aber am besten ging man auf Nummer Sicher. So etwa sprachen die Issei. Peter war fort, und seine Reisen hatten ihn zu der Ansicht gebracht, daß die Jagd nach verborgenen Kolonien vorbei sein müßte. Und daß diese Jagd auf jeden Fall aussichtslos wäre. »Es gibt Widerstandssiedlungen, die sich überhaupt nicht verstecken«, sagte er. »Sie könnten nie alle Signale überprüfen, die sie auffangen.«

Aber Sax erwiderte nur: »Algorithmische Suchprogramme sind sehr effektiv.« Und Maya bestand darauf, außer Sicht zu bleiben und ihre Elektronik zu sichern und alle überschüssige Wärme tief ins Herz der Polkappe zu schicken. Hiroko stimmte mit Maya darin überein; und so fügten sich alle. »Mit uns ist es anders«, sagte Maya zu Peter mit gequälter Miene.

Wie Sax ihnen eines Morgens in der Schule sagte, gab es etwa zweihundert Kilometer im Nordwesten ein Mohole. Die Wolke, die sie manchmal in dieser Richtung sahen, war seine Rauchfahne — an manchen Tagen groß und ruhig und an anderen in dünnen Fetzen nach Osten wehend. Als Cojote das nächste Mal vorbeikam, fragten sie ihn beim Essen, ob er dort gewesen sei; und er bejahte das und sagte, daß der große Schacht des Moholes bis dicht an das Zentrum des Mars reiche und sein Boden nichts als blubbernde flüssige feurige Lava sei.