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Zwei Stunden später

RE:

Lieber »Professor«, ich mag Ihren Humor, er ist nur einen Halbton von der chronischen Ernsthaftigkeit entfernt und klingt deshalb besonders schräg!! Ich melde mich morgen. Ich freu mich schon! Emmi.

Sieben Minuten später

AW:

Danke! Jetzt kann ich beruhigt schlafen gehen. Leo.

Am nächsten Tag

Betreff: Nahe treten

Lieber Leo, den »Leike« lasse ich jetzt weg. Sie dürfen dafür die »Rothner« vergessen. Ich habe Ihre gestrigen Mails sehr genossen, ich habe sie mehrmals gelesen. Ich möchte Ihnen ein Kompliment machen. Ich finde es spannend, dass Sie sich so auf einen Menschen einlassen können, den Sie gar nicht kennen, den Sie noch nie gesehen haben und wahrscheinlich auch niemals sehen werden, von dem Sie auch sonst nichts zu erwarten haben, wo Sie gar nicht wissen können, ob da jemals irgend etwas Adäquates zurückkommt. Das ist ganz atypisch männlich, und das schätze ich an Ihnen. Das wollte ich Ihnen vorweg nur einmal gesagt haben. So, und jetzt zu ein paar Punkten:

1.) Sie haben einen ausgewachsenen Massenmail- Weihnachtsgruß-Psycho! Wo haben Sie den aufgerissen? Anscheinend kränkt man Sie zu Tode, wenn man »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr« sagt. Gut, ich verspreche Ihnen, ich werde es nie, nie wieder sagen! Übrigens finde ich es erstaunlich, dass Sie von »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr« auf ein Lebensalter schließen können wollen. Hätte ich »Frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr« gesagt, wäre ich dann zehn Jahre jünger gewesen?

2.) Tut mir Leid, lieber Leo Sprachpsychologe, aber dass eine Frau nicht jünger als 20 Jahre sein kann, wenn sie nicht »cool«, »geil« und »heavy« verwendet, kommt mir schon ein bisschen weltfremd oberprofessorenhaft vor. Nicht, dass ich hier darum kämpfe, so zu schreiben, dass Sie meinen könnten, ich sei jünger als 20 Jahre. Aber weiß man es wirklich?

3.) Ich schreibe also wie 30, sagen Sie. Eine 30-Jährige liest aber nicht »Like«, sagen Sie. Dazu erkläre ich Ihnen gerne: Die Zeitschrift »Like« hatte ich für meine Mutter abonniert. Was sagen Sie jetzt? Bin ich nun endlich jünger, als ich schreibe?

4.) Mit dieser Grundsatzfrage muss ich Sie alleine lassen. Ich habe leider einen Termin. (Firmunterricht? Tanzschule? Nagelstudio? Teekränzchen? Suchen Sie es sich ruhig aus.)

Schönen Tag noch, Leo! Emmi.

Drei Minuten später

RE:

Ach ja, Leo, eines will ich Ihnen doch noch verraten: Bei der Schuhgröße waren Sie gar nicht so schlecht. Ich trage 37. (Aber Sie brauchen mir keine Schuhe zu schenken, ich habe schon alle.)

Drei Tage später

Betreff: Etwas fehlt

Lieber Leo, wenn Sie mir drei Tage nicht schreiben, empfinde ich zweierlei: 1.) Es wundert mich. 2.) Es fehlt mir etwas. Beides ist nicht angenehm. Tun Sie was dagegen! Emmi

Am nächsten Tag

Betreff: Endlich gesendet!

Liebe Emmi, zu meiner Verteidigung gebe ich an: Ich habe Ihnen täglich geschrieben, ich habe die E-Mails nur nicht abgeschickt, nein, im Gegenteil, ich habe sie allesamt wieder gelöscht. Ich bin in unserem Dialog nämlich an einem heiklen Punkt angelangt. Sie, diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37, beginnt mich schön langsam mehr zu interessieren, als es dem Rahmen, in dem ich mich mit ihr unterhalte, entspricht. Und wenn sie, diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37, von vornherein feststellt: »Wahrscheinlich werden wir uns niemals sehen«, dann hat sie natürlich völlig Recht und ich teile ihre Ansicht. Ich halte das für sehr, sehr klug, dass wir davon ausgehen, dass es zu keiner Begegnung zwischen uns kommen wird. Ich will nämlich nicht, dass die Art unseres Gesprächs hier auf das Niveau eines Kontaktanzeigen- und Chatroom-Geplänkels absinkt.

So, und diese E-Mail schicke ich nun endlich weg, damit sie, diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37, wenigstens irgendwas von mir in der Mailbox hat. (Aufregend ist der Text nicht, ich weiß, es ist auch nur ein Bruchteil von dem, was ich Ihnen schreiben wollte.) Alles Liebe, Leo.

23 Minuten später

RE:

Aha, dieser gewisse Leo Sprachpsychologe will also nicht wissen, wie diese gewisse Emmi mit Schuhgröße 37 aussieht? Leo, das glaube ich Ihnen nicht! Jeder Mann will wissen, wie jede Frau aussieht, mit der er spricht, ohne zu wissen, wie sie aussieht. Er will sogar möglichst schnell wissen, wie sie aussieht. Denn danach weiß er, ob er noch weiter mit ihr sprechen will oder nicht. Oder etwa nicht? Herzlichst, die gewisse 37er-Emmi.

Acht Minuten später

AW:

Das war jetzt mehr hyperventiliert als geschrieben, stimmt's? Ich muss gar nicht wissen, wie Sie aussehen, wenn Sie mir solche Antworten geben, Emmi. Ich habe Sie ohnehin vor mir. Und dafür muss ich mich nicht einmal mit Sprachpsychologie beschäftigt haben. Leo.

21 Minuten später

RE:

Sie irren, Herr Leo. Das war völlig ruhig geschrieben. Sie sollten mich einmal sehen, wenn ich tatsächlich hyperventiliere. Im Übrigen neigen Sie prinzipiell eher nicht dazu, meine Fragen zu beantworten, stimmt's? (Wie sehen Sie eigentlich aus, wenn Sie »Stimmt's?« fragen?) Aber darf ich noch einmal auf Ihren E-Mail-Wurf von heute Vormittag zurückkommen. Da passt so gar nichts zusammen. Ich halte fest:

1.) Sie schreiben mir E-Mails und schicken sie nicht ab.

2.) Sie beginnen sich schön langsam mehr für mich zu interessieren, als es dem »Rahmen unserer Unterhaltung« entspricht. Was soll das heißen? Ist der Rahmen unserer Unterhaltung nicht ausschließlich das gegenseitige Interesse an einer jeweils völlig fremden Person?

3.) Sie finden es sehr klug - nein, Sie finden es sogar »sehr, sehr klug«, dass wir uns nie treffen werden. Ich beneide Sie um Ihre leidenschaftliche Hinwendung an die Klugheit!

4.) Sie wollen kein Chatroom-Geplänkel. Sondern? Worüber wollen wir uns unterhalten, damit Sie sich nicht schön langsam mehr für mich interessieren, als es dem »Rahmen« entspricht?

5.) Und, für den gar nicht unwahrscheinlichen Fall, dass Sie keine meiner soeben gestellten Fragen beantworten werden: Sie sagten, dass das vorhin nur ein Bruchteil von dem war, was Sie mir schreiben wollten. Schreiben Sie mir ruhig den Rest. Ich freue mich über jede Zeile! Ich lese Sie nämlich gerne, lieber Leo. Emmi.

Fünf Minuten später

AW:

Liebe Emmi, Wenn Sie nicht 1.) 2.) 3.) und so weiter schreiben können, sind Sie es nicht, stimmt's? Morgen mehr. Schönen Abend. Leo.

Am nächsten Tag

Kein Betreff

Liebe Emmi, ist Ihnen schon aufgefallen, dass wir absolut nichts voneinander wissen? Wir erzeugen virtuelle Fantasiegestalten, fertigen illusionistische Phantombilder voneinander an. Wir stellen Fragen, deren Reiz darin besteht, nicht beantwortet zu werden. Ja, wir machen uns einen Sport daraus, die Neugierde des anderen zu wecken und immer weiter zu schüren, indem wir sie kategorisch nicht befriedigen. Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, zwischen den Wörtern, bald wohl schon zwischen den Buchstaben. Wir bemühen uns krampfhaft, den anderen richtig einzuschätzen. Und gleichzeitig sind wir akribisch darauf bedacht, nur ja nichts Wesentliches von uns selbst zu verraten. Was heißt »nichts Wesentliches«? - Gar nichts, wir haben noch nichts aus unserem Leben erzählt, nichts, was den Alltag ausmacht, was einem von uns wichtig sein könnte.