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Wir kommunizieren im luftleeren Raum. Wir haben artig gestanden, welcher beruflichen Tätigkeit wir nachgehen. Sie würden mir theoretisch eine schöne Homepage gestalten, ich erstelle Ihnen dafür praktisch (schlechte) Sprachpsychogramme. Das ist alles. Wir wissen aufgrund eines miesen Stadtmagazins, dass wir in der gleichen Großstadt leben. Aber sonst? Nichts. Es gibt keine anderen Menschen um uns. Wir wohnen nirgendwo. Wir haben kein Alter. Wir haben keine Gesichter. Wir unterscheiden nicht zwischen Tag und Nacht. Wir leben in keiner Zeit. Wir haben nur unsere beiden Bildschirme, jeder streng und geheim für sich, und wir haben ein gemeinsames Hobby: Wir interessieren uns für eine jeweils völlig fremde Person. Bravo! Was mich betrifft, und jetzt komme ich zu meinem Geständnis: Ich interessiere mich wahnsinnig für Sie, liebe Emmi! Ich weiß zwar nicht warum, aber ich weiß, dass es einen markanten Anlass dafür gegeben hat. Ich weiß aber auch, wie absurd dieses Interesse ist. Es würde einer Begegnung niemals standhalten, egal wie Sie aussehen, wie alt Sie sind, wie viel Sie von Ihrem beträchtlichen E-Mail-Charme zu einem allfälligen Treffen mitnehmen könnten und was von Ihrem geschriebenen Sprachwitz auch in Ihren Stimmbändern steckt, in Ihren Pupillen, in Ihren Mundwinkeln und Nasenflügeln. Dieses »Wahnsinnsinteresse«, so mein Verdacht, nährt sich einzig und allein aus der Mailbox. Jeder Versuch, es von dort heraustreten zu lassen, würde vermutlich kläglich scheitern.

Nun meine Schlüsselfrage, liebe Emmi: Wollen Sie noch immer, dass ich Ihnen Mails schreibe? (Diesmal wäre eine klare Antwort äußerst entgegenkommend.) Alles, alles Liebe, Leo.

21 Minuten später

RE:

Lieber Leo, das war aber viel auf einmal! Sie müssen ordentlich Tagesfreizeit haben. Oder zählt das als Arbeit? Kriegen Sie dafür Zeitausgleich? Können Sie es von der Steuer absetzen? Ich weiß, ich habe eine spitze Zunge. Aber nur schriftlich. Und nur, wenn ich unsicher bin. Leo, Sie machen mich unsicher. Sicher ist nur eines: Ja, ich will, dass Sie mir weiter E-Mails schreiben, wenn's Ihnen nichts ausmacht. Wenn das noch nicht klar genug war, dann probiere ich es noch einmaclass="underline" JA, ICH WILL!!!!!!! E-MAILS VON LEO! E-MAILS VON LEO! E-MAILS VON LEO. BITTE! ICH BIN SÜCHTIG NACH E-MAILS VON LEO! Und jetzt müssen Sie mir unbedingt verraten, warum es bei Ihnen zwar keinen Grund, aber einen »markanten Anlass« dafür gegeben hat, sich für mich zu interessieren. Das verstehe ich nämlich nicht, aber es klingt spannend. Alles, alles Liebe und noch ein »Alles« dazu, Emmi. (PS: Die E-Mail da oben von Ihnen war klasse! Absolut humorlos, aber echt klasse!)

Am übernächsten Tag

Betreff: Frohe Weihnachten

Wissen Sie was, liebe Emmi, ich breche mit unseren Gepflogenheiten und erzähle Ihnen heute etwas aus meinem Leben. Sie hieß Marlene. Noch vor drei Monaten hätte ich geschrieben: Sie heißt Marlene. Heute hieß sie es. Nach fünf Jahren Gegenwart ohne Zukunft habe ich endlich in die Mitvergangenheit gefunden. Details unserer Beziehung erspare ich Ihnen. Das Schönste daran war immer der Neubeginn. Weil wir beide so leidenschaftlich gerne neu begannen, taten wir es alle paar Monate. Wir waren jeweils »die große Liebe unseres Lebens«, aber nie, wenn wir zusammen waren, immer nur, wenn wir uns gerade wieder bemühten, zusammenzufinden.

Ja, und im Herbst war es dann endlich so weit: Sie hatte einen anderen, einen, mit dem sie sich vorstellen konnte, nicht nur zusammengeraten zu können, sondern auch zusammen zu sein. - (Obwohl er Pilot bei einer spanischen Fluglinie war, aber bitte.) Als ich es erfuhr, war ich plötzlich so sicher wie nie, dass Marlene »die Frau meines Lebens« war und dass ich alles tun musste, um sie nicht für immer zu verlieren. Ich tat wochenlang alles und noch ein bisschen mehr dazu. (Auch da erspare ich Ihnen besser Details.) Und sie war wirklich knapp daran, mir und somit uns beiden eine allerletzte Chance zu geben: Weihnachten in Paris. Ich hatte vor - lachen Sie mich ruhig aus, Emmi - , ihr dort einen Heiratsantrag zu machen, ich Vollidiot. Sie wartete nur noch den Rückflug des »Spaniers« ab, um ihm die Wahrheit über mich und Paris zu sagen, das war sie ihm schuldig, meinte sie. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, was heißt »mulmig«, ich hatte einen spanischen Airbus im Bauch, wenn ich an Marlene und diesen Piloten dachte. Das war am 19. Dezember. Am Nachmittag erhielt ich - nein, nicht einmal einen Anruf, ich erhielt eine katastrophale E-Mail von ihr: »Leo, es geht nicht, ich kann nicht, Paris wäre nur wieder eine neue Lüge. Bitte verzeih mir!« Oder so ähnlich. (Nein, nicht so ähnlich, sondern wortwörtlich.) Ich schrieb sofort zurück: »Marlene, ich will dich heiraten! Ich bin fest entschlossen. Ich will immer mit dir sein. Ich weiß jetzt, dass ich es kann. Wir gehören zusammen. Vertraue mir ein letztes Mal. Bitte lass uns in Paris über alles reden. Bitte sag ja zu Paris.« So, und dann wartete ich auf eine Antwort, eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden. Dazwischen unterhielt ich mich alle zwanzig Minuten mit ihrer taubstummen Mobilbox, las alte, im PC gespeicherte Liebesbriefe, schaute mir unsere digitalen Liebesfotos an, die allesamt während unserer unzähligen Versöhnungsreisen entstanden waren. Und dann starrte ich wieder wie besessen auf den Bildschirm. Von diesem kurzen, herzlosen Klanggeräusch, wenn eine neue Meldung einlangte, von diesem kleinen lächerlichen Briefchen in der Symbolleiste hing mein Leben mit Marlene, also aus damaliger Sicht mein Weiterleben ab. Ich gab mir selbst eine Leidensfrist bis 21 Uhr. Sollte sich Marlene bis dahin nicht gemeldet haben, war Paris und somit unsere wohl letzte Chance gestorben. Es war 20:57. Und plötzlich: ein Klingeln, ein Briefchen (ein Stromstoß, ein Herzinfarkt), eine Nachricht. Ich schließe für ein paar Sekunden die Augen, ich sammle alle armseligen Restbestände meines positiven Denkens, ich konzentriere mich auf die ersehnte Meldung, auf Marlenes Zusage, auf Paris zu zweit, auf ein Leben für immer mit ihr. Ich reiße die Augen auf, ich öffne die Mitteilung. Und ich lese, ich lese, ich lese: »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr wünscht Emmi Rothner.« So viel zu meinem »ausgewachsenen Massenmail- Weihnachtsgruß-Psycho«. Schönen Abend, Leo.

Zwei Stunden später

RE:

Lieber Leo, das ist eine besonders gute Geschichte. Vor allem die Pointe hat mich begeistert. Ich bin beinahe stolz, dass ich da so schicksalhaft hineinspiele. Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie mir, Ihrer »virtuellen Fantasiegestalt«, Ihrem »illusionistischen Phantombild«, gerade Außergewöhnliches von sich verraten haben. Das war jetzt so richtig »Privatleben Marke Leo, Sprachpsychologe«. Ich bin heute schon zu müde, etwas Brauchbares dazu zu sagen. Aber morgen kriegen Sie von mir eine anständige Analyse, wenn Sie erlauben. So mit 1.) 2.) 3.) und so weiter. Schlafen Sie gut, und träumen Sie sinnvoll. Also nicht von Marlene, würde ich Ihnen empfehlen. Emmi.

Am nächsten Tag

Betreff: Marlene

Guten Morgen, Leo. Darf ich Sie ein bisschen härter anfassen?

1.) Sie sind also so ein Mann, der sich für eine Frau nur am Anfang und am Ende interessieren kann: wenn er sie kriegen will und knapp bevor sie ihm endgültig abhanden kommt. Die Zeit dazwischen - auch Zusammensein genannt - ist Ihnen zu langweilig oder zu anstrengend, oder beides. Stimmt's?

2.) Sie sind zwar (diesmal) wie durch ein Wunder unverheiratet geblieben, aber um einen spanischen Piloten aus dem Bett Ihrer So-gut-wie-Ex zu bekommen, würden Sie schon einmal locker vor den Traualtar treten. Das zeugt von eher geringer Hochachtung gegenüber dem Ehegelübde. Stimmt's?