»Niemand darf es erfahren«, sagte plötzlich eine Stimme neben ihm. Es war Alberich.
»Nein«, antwortete Hagen. »Niemand wird ihn finden. Es wird so sein, wie ich es gestern abend sagte - er wird einfach nicht wiederkommen. Und ich auch nicht.« »Ihr geht fort?«
»Nach Tronje«, bestätigte Hagen. »Ich hätte es niemals verlassen sollen.« Alberich versank in Schweigen. Minuten vergingen; während er überlegte. »Ihr habt recht«, sagte er schließlich. »Gunther soll Eurem Bruder Bescheid geben, daß er Euch folgt, sobald sich die Aufregung über Siegfrieds Verschwinden gelegt hat Ich werde Euch begleiten.« Hagen sah ihn überrascht an. »Du?«
Alberich nickte. »Ich habe hier nichts mehr verloren«, sagte er. »Das stimmt.« Hagen lachte bitter. »Deine Aufgabe ist erfüllt. Ich hoffe, du warst erfolgreich.«
Alberich ging nicht auf seinen Spott ein. »Das wird die Zukunft zeigen«, antwortete er ernst. »Du ... kannst nicht gehen«, warf Gunther plötzlich ein. Hagen sah ihn fragend an. »Kriemhild weiß, was geschehen ist« Hagen erbleichte. »Sie ... sie weiß ...?«
Gunther deutete auf Siegfried. »Dieser Narr hat es ihr gesagt, ehe er Worms verließ.« Er schürzte trotzig die Lippen. »Warum, denkst du wohl, bin ich hier? Kriemhild kam zu mir, kaum daß Siegfried aus dem Tor galoppiert war, und begann mich mit Vorwürfen zu überhäufen! Sie hat geweint und geschrien und gesagt, daß sie mich für deinen Tod verantwortlich machen wird, wenn dir etwas geschieht.« »Wer weiß noch davon?«
Gunther seufzte. »Der halbe Hof. Kriemhild war nicht gerade leise. Sie hat so laut gejammert und lamentiert, daß die halbe Burg davon aufgewacht sein muß! Und sicher ist sie hinterher herumgelaufen und hat es jedem erzählt.«
Hagen schwieg einen Moment. Und dann geschah etwas Sonderbares. Aller Schmerz und alle Niedergeschlagenheit wichen von ihm, und plötzlich fühlte er wieder die alte, kühle Überlegenheit, plötzlich liefen seine Gedanken wieder in nüchternen Bahnen, wie er es gewohnt war. Vielleicht war es diese neuerliche Herausforderung, die Falle, die Siegfried ihm noch über seinen Tod hinaus gestellt hatte, ihm und Gunther und seinen Brüdern. Mit einem Male wußte er, was er zu tun hatte. Selbst das Entsetzen über Gunthers ungeheuerliches Tun war von ihm gewichen, wenn auch nicht für immer. Es würde wiederkehren, und wahrscheinlich hatte Gunther mehr zerstört, als jemals wieder gutzumachen war. Doch damit und mit allem anderen konnte er sich später beschäftigen.
»Dann bringen wir ihn zurück«, sagte er bestimmt. »Es soll so sein, wie Siegfried es wollte. Und Ihr werdet es bestätigen, Gunther. Siegfried und ich haben gekämpft, und ich habe ihn erschlagen.«
»Du?« Gunther erschrak »Das ... das kann ich nicht annehmen. Warum willst du für etwas bezahlen, was ich tat?«
»Ihr habt Siegfried hinterrücks getötet Das ist es, was Ihr getan habt Wollt Ihr Euch dessen vor aller Welt rühmen?« Gunther zuckte zusammen. Seine Augen flackerten. »Ihr würdet Siegfried im nachhinein den Sieg schenken«, fügte Hagen unbarmherzig hinzu.
»Und wenn es so wäre?« sagte Gunther trotzig. »Du, mein Freund, sollst nicht für etwas büßen, was du nicht getan hast. Kriemhild würde dich hassen!«
»Elender Narr!« krächzte Alberich. »Denkt Ihr etwa, Ihr könntet Euch damit rühmen, Siegfried erschlagen zu haben? Wenn Ihr auf Ruhm aus seid, hättet Ihr mit dem Schwert in der Hand gegen ihn kämpfen und Euch erschlagen lassen sollen! Ihr seid nichts als ein feiger Mörder, und genau das wird man Euch nennen!«
»Nein«, sagte Hagen, »das wird man nicht. Niemand wird je erfahren, was hier wirklich geschah. Niemand weiß es außer dir und mir.« Während er dies sagte, löste er behutsam das Schwert aus Siegfrieds erstarrenden Fingern.
Alberich fuhr herum. Sein Begreifen kam zu spät Der Balmung streichelte seine Kehle in einer leisen, fast zärtlichen Berührung und trennte seinen Kopf von den Schultern.
19
Es war beinahe Mittag, als sie Worms erreichten. Sie hatten lange gebraucht, die kurze Wegstrecke zurückzulegen: für einen Ritt von weniger als einer Stunde die vierfache Zeit, denn Hagen hatte darauf bestanden, allen anderen aus dem Weg zu gehen. Und es waren viele gewesen, denen sie ausgewichen waren; Worms war voller Menschen, und nicht alle hielten sich an Gunthers Gebot, die unmittelbare Umgebung von Stadt und Burg nicht zu verlassen. Aber irgendwie hatten sie es geschafft, unbehelligt zu bleiben.
Sie ritten nebeneinander, Siegfrieds Pferd mit dem Leichnam des Drachentöters im Sattel zwischen sich. Das Pferd Alberichs hatten sie abgesattelt und davongejagt, den Albenkönig selbst an einer Stelle unweit der Lichtung im Wald verscharrt. Niemand würde den Zwerg vermissen, dachte Hagen mit seltsamer Wehmut Hagen hatte Siegfried zur Quelle getragen und ihn gesäubert, so gut es ging. Siegfrieds Kleider waren mit Blut getränkt, und das eingetrocknete Blut ließ sich schwer entfernen. Vielleicht war es auch nur das Bedürfnis gewesen, sich selbst zu waschen, mit dem Blut und Schmutz von Siegfrieds Körper auch die Schuld von seinen Händen zu waschen. Sie sprachen nicht viel; nur das Allernötigste, während sie sich um Siegfried und Alberich kümmerten, und kaum ein Wort auf dem gesamten Rückweg nach Worms. Hagen empfand dieses Schweigen als Qual, und er spürte, daß es Gunther ebenso erging. Es gab nichts mehr, was mit Worten noch gutzumachen gewesen wäre. Und allen Schaden, den sie mit Worten anrichten konnten, dachte er bitter, hatten sie bereits angerichtet. Trotz der frühen Stunde war das Fest in der Stadt bereits wieder in vollem Gang. Musik und Gelächter wehten ihnen entgegen, lange ehe sie ihre Pferde auf die roh gepflasterte Straße hinauflenkten, eine Horde schmutziger Kinder kam ihnen schreiend entgegengelaufen und zerstreute sich, als sie die beiden Reiter und den Toten zwischen ihnen erkannten.
Wie eine unsichtbare Schleppe zogen sie Schweigen hinter sich nach, wo sie entlangritten, Gelächter und Musik verstummten, und das Schweigen kroch weiter, nahm hinter ihnen Besitz von der Stadt und ihren Menschen, erstickte das Fest und die überquellende Fröhlichkeit. Die Männer und Frauen, die Gunther, Hagen und den Toten erblickten, erstarrten, und dann und wann hörte er eine Stimme, die Siegfrieds oder auch seinen Namen flüsterte, spürte er einen Blick, in dem sich Entsetzen mit Unglauben mischte; doch ebensooft las er Neugierde darin, eine Art teilnahmsloses Interesse. Plötzlich begriff Hagen, wie unwichtig Gunthers Tat im Grunde gewesen war. Was bedeutete es für diese Menschen hier, ob Siegfried von Xanten lebte oder starb, ob er in einem offenen Zweikampf besiegt oder meuchlings ermordet worden war? Möglicherweise - machte er sich mit Entsetzen klar, während sie sich der Burg näherten - war der Tote, den sie heimbrachten, nur der erste in einer langen Reihe: Siegfrieds Tod mochte der Beginn eines Krieges sein, an dessen Ende Worms wieder zu dem Staub geworden war, aus dem es erbaut wurde. Aber auch das spielte keine Rolle. Wie unwichtig waren sie doch alle. Wie unwichtig waren selbst Urd und ihre sterbenden Götter, ja selbst der Christengott, dessen Prediger für ihn und sich die Unsterblichkeit in Anspruch nahmen, die Macht über alle anderen Götter und die Welt erst recht. Auch sie würden vergehen und irgendwann vergessen sein.
»Was hast du, mein Freund?« fragte Gunther leise, während sie am Rande des Gauklerlagers entlangritten. Hagen wurde sich bewußt, daß ihm seine Gedanken deutlich auf dem Gesicht geschrieben standen. »Nichts.« Er lächelte. »Ich... habe vielleicht nur versucht, mich selbst zu beruhigen.«
Gunther zügelte sein Pferd. Er blickte auf den reglosen Körper Siegfrieds hinab und schüttelte schmerzlich den Kopf. »Du haßt mich«, murmelte er.
»Hassen?« Hagen dachte einen Moment ernsthaft über die Frage nach. »Nein. Wie kommt Ihr darauf?«