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»Weil ich ein Schwächling bin«, flüsterte Gunther. »Die Götter mögen den Tag verfluchen, an dem ich mich auf den Thron von Worms gesetzt habe.«

Hagen antwortete nicht darauf. Was hätte er auch sagen sollen, was nicht schon hundertmal zwischen ihnen gesagt worden war? Er begriff, daß Gunther ebenso litt wie er, vielleicht mehr. Er tat ihm leid. Aber er schwieg. Ohne ein Wort ritten sie weiter. Sein Blick suchte die Burg. Fallgatter und Tor standen offen wie seit Tagen, und hinter den Zinnen blitzte es hin und wieder rot und silbern auf. Ihr Kommen mußte bemerkt worden sein, so wie die Stille, die sich fast hörbar von Worms aus ausgebreitet hatte. Auch im Lager des fahrenden Volkes war kaum noch ein Laut zu hören, und obwohl Hagen der Versuchung widerstand, den Blick zu wenden und zu den Zelten und Wagen hinüberzusehen, spürte er die zahllosen Augenpaare, die auf ihn und Gunther gerichtet waren. Vielleicht - sicher - würde Kriemhild jetzt schon wissen, daß sie zurückkamen. Der Gedanke schmerzte Hagen. Obwohl er sich mehr davor fürchtete als vor irgend etwas auf der Welt, wollte doch er es sein, der es Kriemhild sagte; kein anderer. »Ich werde die Wahrheit sagen«, sagte Gunther unvermittelt in Hagens Gedanken hinein.

Hagen brachte sein Pferd mit einem harten Ruck am Zügel zum Stehen. »Was?« fragte er scharf. »Die Wahrheit«, wiederholte Gunther. »Daß ich es war, der Siegfried hinterrücks ermordet hat.«

»Seid Ihr verrückt geworden, Gunther?« fragte Hagen heftig. Gunther seufzte. »Nein, mein Freund. Ich war niemals so vernünftig wie jetzt. Du... du bist der einzige Freund, den ich jemals hatte. Ich lasse nicht zu, daß du dich für mich opferst.«

»Ich tue es für Worms!« behauptete Hagen, aber Gunther schnitt ihm mit einer entschiedenen Geste das Wort ab. »Nein, Hagen«, widersprach er. »Ich weiß, was du sagen willst. Heute morgen habe ich dir geglaubt, aber ich habe Zeit gehabt, über alles nachzudenken. Ich will nicht mehr.« »Was?« fragte Hagen böse. »Leben?«

»Lügen«, antwortete Gunther ruhig. »Ich habe zu lange gelogen, Hagen. Ich habe mich selbst belogen, meine Freunde, dich, mein Volk. Mein ganzes Leben ist eine einzige Lüge gewesen.«

»Dann fügt ihm eine weitere hinzu«, sagte Hagen zornig. »Oder Ihr zerstört alles!«

»Nein!« sagte Gunther. Er ballte die Faust »Nein, Hagen. Ich werde die Wahrheit sagen, koste es, was es wolle, zum ersten Mal.« »Dann zwingt Ihr mich, Euch zum ersten Mal der Lüge zu zeihen«, antwortete Hagen kalt. Gunther starrte ihn an. »Du...«

»Ich werde bei dem bleiben, was wir besprochen haben«, fügte Hagen mit fester Stimme hinzu. »Geht hin und sagt, daß Ihr es wart, der Siegfried von Xanten erschlug. Ich werde behaupten, daß ich es war.«

»Sie werden dir nicht glauben, Hagen«, erwiderte Gunther. Er wirkte verstört. »Ich bin der König von Worms. Mein Wort steht gegen deines.« »Ich werde behaupten, Ihr hättet diesen Plan ersonnen, um mein Leben zu schützen«, fuhr Hagen fort. »Ich werde sagen, Ihr vertrautet auf Eure Macht und Eure Unberührbarkeit als König und glaubtet, mir diesen Freundschaftsdienst schuldig zu sein. Jeder wird es mir glauben.« Gunther stöhnte wie unter Schmerzen. »Warum bist du so grausam, Hagen?« flüsterte er. »Warum jetzt auch noch du? Warum nimmst du mir auch noch das Letzte, was mir geblieben ist?«

»Um Euch zu retten. Euch und Worms. Und vielleicht mich. Wie lange, glaubt Ihr, würde ich Euch überleben, wenn sie Euch umbrächten? Eine Stunde? Zwei? Kaum, denn sie würden erst mich töten und dann Euch. Und jetzt kommt weiter. Eure Schwester erwartet uns.« Und damit riß er sein Pferd herum, stieß dem Tier die Absätze in die Flanken und sprengte die letzten hundert Schritte den Weg hinauf und über die Zugbrücke in den Hof hinein.

Wie er erwartet hatte, war ihr Näherkommen bemerkt worden. Eine neugierige Menschenmenge hatte sich auf dem Hof versammelt, und aus dem Haus, aus den Ställen und den Gesindehäusem strömten weitere Männer und Frauen. Sie wissen es, dachte Hagen. Natürlich wußte jeder hier in der Burg, warum Siegfried von Xanten und er Worms vor Sonnenaufgang verlassen hatten. Dinge wie diese ließen sich nicht geheimhalten. Das ungläubige Staunen auf den Gesichtern, die ihm entgegenstarrten, galt einzig dem Umstand, daß er es war, der wiederkam. Er lenkte sein Pferd zwischen der gaffenden Menge hindurch, näherte sich der Treppe und sprang aus dem Sattel. Ein Raunen lief durch die Menge. Jemand rief Siegfrieds Namen. Eine Frau schrie gellend auf. Dann, als hätte sie diesen Moment genau berechnet, trat Kriemhild aus der Tür.

Und Hagen erstarrte.

Die Angst war da. Eine Furcht, die ihm die Kehle zuschnürte, die alles, was er sich auf dem Weg hierher zurechtgelegt hatte, zunichte machte und ihn aufstöhnen ließ. Kriemhild blieb einen Augenblick in der Tür stehen, ehe sie mit einem halb erschrockenen, halb erleichterten Aufschrei die Stufen hinablief und ihm entgegeneilte. Mit wehendem Haar rannte sie auf ihn zu, prallte fast gegen ihn und ergriff ungestüm seinen Arm. »Hagen!« rief sie. »Ihr lebt! Gott sei gedankt, Ihr lebt!« »Ja«, murmelte Hagen. »Ich lebe.« Kriemhilds Gesicht begann vor seinen Augen zu zerfließen wie ein Spiegelbild im Wasser, in das ein Stein geworfen wurde.

»Dann... dann habt ihr nicht gekämpft?« fuhr Kriemhild errregt fort »Siegfried erzählte mir, was geschehen war, und ich hatte solche Angst um Euch und...« Sie verhaspelte sich, brach ab und blickte an Hagen vorbei auf den Hof hinaus, konnte aber offensichtlich in dem Gedränge am Tor weder Gunther noch Siegfried ausmachen. Kurz darauf fuhr sie im gleichen hastigen Tonfall fort: »Ihr wißt nicht, wie ich mich freue, Euch gesund und lebend wiederzusehen! Ich habe Stunde um Stunde gebetet, daß Euch kein Haar gekrümmt wird, Hagen. Ich habe Gott angefleht, daß Ihr nicht kämpfen würdet - und«, fügte sie mit einem verschämten Blinzeln hinzu, »auch ein paar Eurer heidnischen Götter, Hagen von Tronje. Und ich sehe, meine Gebete wurden erhört« Hagens Herz tat weh, so hart schlug es. Seine verwundete Lippe platzte auf. Ein Blutstropfen versickerte in seinem Bart Er merkte es nicht »Ihr... Ihr irrt Euch, Kriemhild«, flüsterte er.

Etwas in Kriemhilds Blick erlosch. In die Erleichterung mischte sich Verwirrung, dann, ganz langsam, aufkeimender Schrecken. »Was meint Ihr damit, Hagen?« fragte sie.

»Eure Gebete waren... umsonst«, antwortete Hagen. Das Sprechen fiel ihm schwer. Seine Zunge wollte ihm den Dienst verweigern. »Wir haben gekämpft.«

»Ihr habt...« begann Kriemhild. Sie brach verwirrt ab, blickte wieder auf den Hof hinaus und starrte Hagen an. Dann fuhr sie zusammen. »O Gott, ja!« flüsterte sie. »Ihr seid verwundet! Ich war so erleichtert, daß ich es im ersten Moment nicht einmal bemerkt habe. Aber Ihr lebt, das allein zählt Was ist geschehen? Hat Siegfried Euch das Leben geschenkt, oder seid ihr beiden Kindsköpfe doch noch rechtzeitig zur Vernunft gekommen?« Sie lachte, aber es klang nicht ganz echt.

Wieso begreift sie denn nicht? dachte Hagen entsetzt. Wieso begreift sie denn noch immer nicht, was geschehen ist?

»Was habt Ihr, Hagen?« fragte Kriemhild. »Warum starrt Ihr mich so an? Was ist geschehen? Antwortet doch endlich. Warum habt ihr aufgehört zu kämpfen, und wo ist Sieg...« Und in diesem Moment begriff sie endlich, was wirklich geschehen war.

Etwas in ihr zerbrach. In ihrem Gesicht regte sich nichts, überhaupt nichts, aber Hagen spürte es wie eine Messerklinge, die ihm ins Herz gestoßen wurde. Etwas in Kriemhild starb im selben Moment, indem sie begriff, was sein Schweigen bedeutete, das Blut auf seinen Kleidern, der goldschimmernde Griff des Balmung, der aus seinem Gürtel ragte. Langsam wich Kriemhild vor ihm zurück Sie blickte auf den Hof, die Menschenmenge, die sich geteilt hatte, um Gunther hindurchzulassen, auf das zweite Pferd, das er am Zügel führte, auf den schlaffen Körper, der über dem Sattel hing, das Gesicht nach unten gewandt und den Schild auf den Rücken geschnallt, um die furchtbare Wunde zu verbergen. Etwas in Kriemhild starb, schnell und für immer, und er konnte sehen, wie es erlosch. Jetzt, das spürte er, hatte er sie endgültig verloren. Es dauerte lange, ehe Kriemhild die Kraft fand, sich von ihrem Platz zu lösen und Gunther entgegenzugehen, und noch länger, eher auch er sich umwandte und ihr folgte. Die Menschen auf dem Hof hatten eine Gasse für Gunther gebildet und diese hinter ihm nicht wieder geschlossen, als wäre der Boden, über den er geschritten war, besudelt Zwei Männer der Torwache hatten Siegfried vom Pferd gehoben und behutsam am Fuße der Treppe niedergelegt Kriemhild war neben ihm auf die Knie gesunken, und Gunther stand ein Stück abseits, dicht bei den anderen, die eine geschlossene Mauer aus Leibern um die schreckliche Szene herum bildeten, und doch unsagbar allein. Kriemhild weinte nicht Ihr Gesicht zeigte nicht die geringste Regung. Nicht einmal ihr Hände zitterten, als sie Siegfrieds Stirn berührte. Erst als Hagen bei ihr anlangte und neben ihr stehenblieb, sah sie auf. Und erst in diesem Moment erwachte der Schmerz in ihr; ganz langsam, zögernd. Ihre Augen wurden dunkel und weit vor Trauer. Aber keine Träne schimmerte darin.