»Nehmt die Hand vom Schwert, Hagen«, sagte sie. »Ihr habt von mir nichts zu befürchten. Es gibt nichts, was Ihr mir noch antun könntet« Hagen schwieg.
»Ich will nur eine Antwort von Euch, Hagen, mehr nicht«, fuhr Brunhild fort »Und ich bitte Euch, seid ehrlich.« Sie atmete hörbar aus. »Ist es wahr, was Kriemhild sagte, daß Siegfried sie geliebt hat?« Hagen starrte an der Walküre vorbei ins Leere. Dann nickte er. »Ich glaube, ja.«
»Dann war alles Lüge.«
Hagen überlegte einen Moment. »Nein«, sagte er dann. »Ich glaube nicht, daß Siegfried gelogen hat. Ich glaube, er... er war gar nicht fähig zu lügen.«
»So wie Ihr.«
»So wie ich«, bestätigte Hagen. »Es war wohl so, daß er alles geplant hat, was nötig war, Worms und Burgund in seine Hand zu bringen. Alles bis auf eine Kleinigkeit. Er hat sich in Kriemhild verliebt.«
»Liebe!« Brunhild spie das Wort aus. »Geliebt hat er auch mich. Wenigstens hat er das gesagt!«
»Und es war wahr«, sagte Hagen. »Vielleicht war es gerade das, Brunhild. Daß er zwei Frauen geliebt hat und darum keine von ihnen bekam. Er wollte das alles nicht, glaube ich. Aber er konnte nicht mehr zurück.« »Ihr sprecht sehr sonderbar von einem Mann, den Ihr erschlagen habt«, sagte Brunhild nach einer Weile.
»Muß ich ihn deshalb hassen?« Er blickte nachdenklich zu Boden. »Nein. Ich habe geglaubt, Siegfried zu hassen. Ich wollte ihn hassen. Aber in Wahrheit... in Wahrheit gelang es mir nicht.«
Brunhild antwortete nicht mehr. Als Hagen aufsah, war sie verschwunden. Schließlich setzte Hagen seinen Weg fort.
Das Schweigen und die Stille, die auf dem Hof herrschten, erschienen ihm schon beinahe unnatürlich angesichts der gewaltigen Menschenmenge, die sich dort versammelt hatte. Die zahlreichen Wachen, die Gunther aufgezogen hatte und die keinen Zweifel daran ließen, daß sie nicht zögern würden, nötigenfalls vom Schwert Gebrauch zu machen, mochten das Ihre dazu beitragen. Vergeblich sah Hagen sich nach den elf riesenhaften Gestalten der Nibelungenreiter um. Ihr Fehlen wirkte aus einem unerklärlichen Grund unheimlicher, als wenn sie in ihrer finsteren Bedrohlichkeit gegenwärtig gewesen wären.
Einen Moment lang blieb er noch im Schatten des Tores stehen und blickte auf das Meer von Köpfen hinunter. Und plötzlich begriff er, daß sämtliche Bewohner der Burg - von Gunther und seinen Edlen bis zum geringsten Stallknecht - hier zusammengeströmt waren. Das Haus hinter ihm war leer, ausgestorben, und erst jetzt, im nachhinein, fiel ihm die Stille auf, die in seinen Gängen geherrscht hatte. Warum waren sie hierhergekommen? dachte er.
Nur, um Siegfrieds Verbrennung beizuwohnen? Oder um zu sehen, wie er, Hagen von Tronje, starb? Für viele wäre dies ein Schauspiel, das sie sich insgeheim schon lange gewünscht hatten. Hagen war sich darüber im klaren, daß die meisten von denen, die sich seine Freunde nannten, ihn in Wahrheit haßten; ein Haß, der aus Furcht geboren und das Vorrecht der Schwachen war.
Er straffte die Schultern und trat mit einem kraftvollen Schritt aus dem Schatten des Tores auf den von Fackeln und vielen kleinen Feuern erhellten Hof hinaus.
Obwohl es kaum glaublich schien, wurde es noch stiller. So wie am Morgen in Worms schlug ihm eine Welle des Schweigens entgegen. Hunderte von Gesichtern wandten sich ihm zu, und was er in ihren Augen las, war überall das gleiche. Furcht, Erwartung und eine prickelnde, nur mühsam unterdrückte Vorfreude.
Sein Blick löste sich von den erwartungsvollen Gesichtern und glitt zu dem gewaltigen Scheiterhaufen, der in der Mitte des Hofes, halbwegs zwischen ihm und dem jetzt geschlossenen Burgtor, aufgeschichtet worden war. Siegfrieds Leichnam war bereits darauf gebettet worden. Die Menge wich vor ihm auseinander, als Hagen auf den Hof hinaustrat, bildete eine Gasse, breiter, als nötig gewesen wäre. Was war das? dachte er erschrocken. Woher kam dieser Haß, der ihm auf einmal so geballt entgegenschlug? Zwei von dreien auf dem Hof hatte er einen Gefallen getan mit Siegfrieds Tod. Wieso haßten sie ihn jetzt dafür? Eine Gestalt trat ihm entgegen, als er zehn Schritte gegangen war: Dankwart. Wie Hagen selbst war er in Waffen und trug die einfache Kleidung eines Kriegers, was nicht nur eine Beleidigung des Toten, sondern auch sein eigenes Todesurteil bedeuten mochte, wenn es zum Kampf kam. Aber wenn es wirklich dazu kam, dachte Hagen bitter, würde Dankwart sterben, gleich, ob er seinen Befehl, nicht einzugreifen, befolgte oder nicht Ruhig ging er auf seinen Bruder zu, verharrte einen Moment im Schritt und schüttelte fast unmerklich den Kopf, als Dankwart dazu ansetzte, etwas zu sagen. Sein Bruder verstand. Widerspruchslos trat er zurück, die rechte Hand auf dem Schwertgriff und die Lippen entschlossen aufeinandergepreßt. Hagen fiel auf, daß die Männer in seiner unmittelbaren Nähe vor ihm zurückzuweichen versuchten, was auf dem überfüllten Hof jedoch so gut wie unmöglich war. Die Tatsache, daß sie es versuchten, erfüllte Hagen mit Bitterkeit. Sein Leben lang hatte Dankwart in seinem Schatten gestanden. Ohne ihn wäre Dankwart selbst ein gefürchteter Mann gewesen, berühmt ob seiner Klugheit und gefürchtet ob der Stärke seines Schwertarmes. Aber er hatte nie wirklich eine Chance gehabt, mehr zu sein als eben der Bruder Hagen von Tronjes. Es war nicht richtig, daß er nun auch noch den Haß zu spüren bekam, der ihm selbst galt. Er ging weiter, bis er den Scheiterhaufen erreicht hatte. Der Geruch nach frisch geschlagenem, mit Öl getränktem Holz stieg ihm in die Nase, der Duft kostbarer Öle, mit denen der Tote gesalbt worden war. Er blieb stehen, stricht mit der Linken über die sorgsam aufgeschichteten Stämme und sah in Siegfrieds Gesicht.
Der Nibelunge sah aus, als schliefe er. Das blutbesudelte Gewand war gegen ein blütenweißes getauscht worden. Seine Hände waren auf der Brust gefaltet und hielten ein kleines silbernes Kreuz, und obgleich es fast eine Lästerung angesichts der heidnischen Bestattungszeremonie war, erschien es Hagen doch auf sonderbare Weise passend. Dies, der Scheiterhaufen der alten und das Kreuz der neuen Welt, war Siegfrieds Leben gewesen, und es war kein Zufall gewesen, daß er so starb, wie er gelebt hatte: als ein Mann, der sich niemals wirklich entschieden hatte, zu welcher der beiden Welten er wirklich gehörte. Siegfrieds Gesicht war schön. Unwillkürlich streckte Hagen die Hand aus, um es zu berühren. »Rühr ihn nicht an!«
Die Stimme war leise, nicht viel mehr als ein Flüstern. Hagen zog hastig die Hand zurück.
»Rühr ihn nicht an, Hagen von Tronje«, sagte Kriemhild noch einmal. Hagen erschrak, als er Kriemhild erblickte. Die Menschenmenge hatte sich abermals geteilt, diesmal, um Gunthers Schwester Platz zu machen, aber die Frau, die mit gemessenen Schritten auf ihn zukam, hatte nichts mehr mit der Kriemhild gemein, die er gekannt hatte. Sie trug ein einfaches, weißes Gewand ohne allen Schmuck und Zierat, ausgenommen ein kleines silbernes Kreuz auf der Brust, ähnlich dem, das Siegfried in Händen hielt. Ihr Haar war streng zurückgekämmt, was sie älter aussehen ließ, als sie war. In der rechten Hand trug sie eine brennende Fackel, von der Pech und winzige glühende Funken auf den Boden und den Saum ihres Kleides herabregneten, ohne daß sie es zu bemerken schien. Ihr Blick war starr auf Hagen gerichtet, aber ihre Augen waren leer. »Rühr ihn nicht an, Hagen«, sagte sie zum drittenmal. »Nie wieder, hörst du? Nie wieder sollst du ihn oder mich berühren, oder irgend etwas, was mir gehört.«
Hagen schwieg. Er konnte spüren, wie die Spannung ringsum wuchs. Sie warten, dachte er. Sie warten auf ein Wort Kriemhilds, eine Geste, ein Zeichen. Es wurde noch stiller, als auch der letzte auf dem Hof den Atem anhielt, um Kriemhilds Worten zu lauschen.