Выбрать главу

Hagen drehte sich nach dem Sprecher um. Es war Giselher, der ihn aus vor Neugier brennenden Augen anblickte. Sein knabenhaftes Gesicht war vor Aufregung gerötet. Hagen wußte, auf welche Antwort er wartete. »Mag sein«, antwortete er ausweichend. »Und wenn, so werden sie für die nächsten zehn Jahre die Finger vom Räuberhandwerk lassen.« Auf Giselhers Zügen malte sich Enttäuschung, aber Hagen ging nicht weiter auf die Sache ein. In Wahrheit hatte er den Großteil der Wegelagerer, als er deren nackte Not erkannte, entkommen lassen. Sollte er einem Mann nach dem Leben trachten, weil dieser Hunger hatte? Er verscheuchte die Erinnerung und wandte sich wieder an Gunther. »Ihr habt mich gefragt, was ich gesehen habe auf meinem Ritt, mein König. Ich will Euch die Antwort nicht schuldig bleiben: Ich sah das Unheil. Zumindest seinen Schatten. Es lauert an den Grenzen und wartet darauf, hereingelassen zu werden.« Seine Worte überraschten ihn selbst; nun, da sie heraus waren, hätte er sie am liebsten wieder zurückgenommen. Doch gleichzeitig fühlte er sich wie von einer Last befreit »Düstere Worte aus dem Munde eines düsteren Mannes«, erwiderte Gunther. »Alle meine Berater und Kundschafter sagen das Gegenteil dessen, was ich jetzt von dir höre, Freund Hagen. Und wenn ich die Burg verlasse und über das Land reite, sehe ich glückliche Menschen und lachende Kinder. Ich weiß natürlich«, fügte er rasch hinzu, als Hagen widersprechen wollte, »daß man dem König mit Höflichkeit und einem Lachen begegnet, auch wenn einem der Stachel des Schmerzes im Fleisch sitzt. Doch die letzten Winter waren milde und die Sommer friedlich und die Ernten überreich. Es gab weder Unwetter noch Seuchen. Gott ist uns freundlich gesonnen, Hagen, weil wir ein gottesfürchtiges Volk sind und er die, die das Haupt vor ihm neigen, schützt. Warum also beharrst du darauf, die Zukunft in düsteren Farben zu sehen, mein Freund?« Vielleicht, weil es meine Zukunft ist, dachte Hagen. Und weil unsere Schicksale miteinander verknüpft sind, ob wir es wollen oder nicht. Laut sagte er: »Ein voller Magen und ein Jahr ohne Krieg sind nicht alles, Gunther, und glaubt mir, nicht alle Menschen in diesem Land werden satt. Im Norden plündern die Dänen, im Osten brandschatzen und morden die Sachsen, und im Süden kann sich Rom nicht entscheiden, ob es untergehen oder erneut die Welt erobern soll.« »Was auf das gleiche hinauslaufen mag«, meinte Gunther seufzend. Mit veränderter Stimme fuhr er fort: »Was solche Bedrohungen angeht, die hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Genieße den Augenblick, und mache dir Sorgen über die Gefahr, wenn sie da ist, Freund. Rom hat genug damit zu tun, sich der Geier zu erwehren, die es schon für tot halten und ihm das Fleisch von den Knochen picken wollen. Mit Etzels Hunnen im Osten herrscht Frieden, und keines der anderen Reiche wäre stark genug, es auf einen offenen Kampf mit Burgund ankommen zu lassen.« »Die Sachsen ...«

»Sind weit entfernt und haben lohnendere Beute im Osten. Und leichtere«, unterbrach ihn Gunther. »Nein, Freund - du siehst zu schwarz. Die Freundschaft mit dem Herrscher der Hunnenvölker sichert uns gleichzeitig den Frieden mit ihm und mit Rom. Hat dir Giselher nicht erzählt, daß wir einen Pakt geschlossen haben?«

»Das hat er«, antwortete Hagen. »Und ich habe nicht verstanden, was damit gemeint sein mag.«

»Das, worauf wir alle schon lange gewartet haben«, antwortete Gunther. »Rom zieht den Großteil seiner Legionen ab. Wenn das Jahr zu Ende geht, wirst du an den Ufern des Rheines keinen römischen Umhang mehr sehen, Hagen. Sie brauchen die Truppen, um sich der Angreifer zu erwehren, die sie auf ihrem eigenen Territorium bedrängen. Aus diesem Grunde waren Boten hier. Hier und in den anderen Städten längs des Rheines.«

Gunthers Eröffnung kam für Hagen nicht sehr überraschend; es war eine Entwicklung, die er schon lange vorausgesehen und erwartet hatte. Rom starb einen langsamen, qualvollen Tod, der vielleicht noch ein Jahrhundert dauern würde, aber unaufhaltsam war. Was ihn überraschte, war die übertriebene Begeisterung, die Gunther an den Tag legte. Die römischen Legionen, die zwei Tagesreisen rheinaufwärts lagen, hatten sich seit Jahresfrist nicht mehr vor die Tore ihres Kastells gewagt, und ihr Abzug hatte - wenn überhaupt - nur noch symbolische Bedeutung. Sie waren Besatzer, aber im Grunde waren sie seit Jahren nur noch geduldet gewesen. Es wäre Burgund mit der Hilfe einiger befreundeter Reiche ein leichtes gewesen, sie aus dem Land zu jagen. Die Boten, die während Hagens Abwesenheit gekommen waren, waren in Wahrheit Bittsteller gewesen. Gunther mußte das wissen. Gunther, der Hagens Schweigen richtig deutete, sagte: »Du bist ein alter Schwarzseher, Hagen. Warum freust du dich nicht mit uns? Wir werden ein Fest feiern.« »Zur Feier dieses ›Vertrages‹?« Das zornige Funkeln in Gunthers Augen sagte ihm, daß der König den Sinn dieser Betonung sehr wohl verstanden hatte. Aber er zog es vor, nicht darauf einzugehen. »Und des Osterfestes - wie ich schon sagte. Vielleicht auch zur Feier deiner Rückkehr.« Er lachte. »Such es dir aus. Such dir einen Grund aus, der dir gefällt, aber ich möchte heute nur fröhliche Gesichter um mich haben.«

Irgend etwas in Gunthers Art zu reden machte Hagen stutzig. Gunther war verändert. Hagen hatte sich nicht getäuscht, es steckte mehr dahinter als jene Verletzung. Sein ganzes Wesen war verändert. Aber Hagen wußte noch nicht, warum. Vielleicht ein Streit... »Der Abzug der Truppen wird Unruhe bringen«, sagte er. »Rom mag krank sein, aber auch ein kranker Riese...«

»Es gibt keine Bedrohung, der wir nicht aus eigener Kraft Herr würden«, schnitt ihm Gunther das Wort ab. Seine Stimme klang ungewöhnlich scharf und drohend. Das Thema war für ihn beendet »Vielleicht habt Ihr recht«, murmelte Hagen. In Gegenwart anderer bediente er sich immer dieser förmlichen Anrede. »Und vielleicht ist jetzt auch nicht der Moment, über Politik zu reden.« Er griff nach seinem Becher, nahm einen Schluck des schweren, süßen roten Weines und drehte den juwelenbesetzten Pokal ein paarmal in den Fingern, ehe er ihn auf den Tisch zurücksetzte. Gunther beobachtete ihn; Hagen spürte seinen Blick, ohne aufzusehen. Im Saal lastete ein gespanntes, fast feindseliges Schweigen.

Hagen griff erneut nach seinem Becher, setzte ihn an die Lippen und blickte unauffällig über seinen Rand hinweg in die Runde. Giselhers Blick begegnete trotzig dem seines Bruders. Trotzig und herausfordernd - fast haßerfüllt. Volker von Alzei hatte wie Hagen seinen Becher erhoben und versteckte sich dahinter. Er trank nicht. Und Ekkewart blickte scheinbar gelangweilt ins Feuer und tat so, als hörte er nichts. Hagens Vermutung war richtig. Es mußte einen Streit gegeben haben. Etwas, was weit über das übliche Geplänkel zwischen den beiden ungleichen Brüdern Giselher und Gunther hinausging.

»Verzeiht, wenn ich mich jetzt zurückziehe«, sagte Hagen. »Ich bin müde, und...«

»Bleib«, unterbrach ihn Gunther. »Noch einen Augenblick, Hagen. Ich... habe mit dir zu reden.« Nach einer langen Pause, in der Hagen ihn erwartungsvoll anblickte, fuhr Gunther fort. Hagen sah, daß der König sich seine Worte sehr genau überlegte. »Ich... hatte meine Gründe, dich zu fragen, was du auf deiner Reise erlebt hast«, sagte er mit einem warnenden Seitenblick auf Giselher. »Würdest du sagen, daß das Reich sicher ist - wenn du deine ... Vorahnungen einmal außer acht läßt?« Hagen überlegte einen Moment. »Ja. Äußerlich.« »Dann ist es gut«, sagte Gunther, noch immer in dem gleichen gereizten Ton, der so vollkommen fremd an ihm war. »Ein Reich sollte in guter Verfassung sein, wenn sich sein König entschließt, es zu verlassen. Wenigstens für eine Weile«, fügte er hinzu, als Hagen ihn überrascht ansah. »Ich plane eine Reise, und ich fürchte, sie wird länger dauern als die sechzig Tage, die du fort warst.«

Giselher öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Gunther brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Verstummen. »Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken«, fuhr er fort, »und der Anbruch des Frühjahrs und der Vertrag mit Rom geben mir die Gelegenheit, ihn endlich in die Tat umzusetzen.«