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Aber das war es nicht allein, was Hagen bewegte. Mehr noch als die Angst und der Hunger in den Gesichtern der Menschen, denen sie begegnet waren, hatte ihm dieser Zwischenfall gezeigt, was im Reich der Burgunderkönige vorging. Er hatte Grimward gesagt, daß er das Unheil riechen könne, das sich unerbittlich wie eine drohende Gewitterwolke über dem Land zusammenballte, und er hatte gemeint, was er sagte. Es gab für seinen Verdacht keine greifbaren Gründe, und Hagen wußte schon jetzt, daß Gunther seine Bedenken mit wenigen Worten zerstreuen würde. Burgund war ein wohlhabendes Reich, und etwas von dem Glanz, der am Hofe zu Worms herrschte, strahlte auch auf die entlegensten Städte und Dörfer aus. Die Felder und Tiere gediehen prächtig, die Menschen wurden satt und hatten winters genügend Holz zum Heizen, und selbst die Plagen, die die Götter früher von Zeit zu Zeit auf die Erde herabgesandt hatten, um die Menschen daran zu erinnern, daß das Leben endlich war und die Asen launisch sein konnten, hatten Burgund und die benachbarten Reiche in den letzten Jahren verschont. Es gab weder Dürre noch Seuchen, und auch die Räuber... Räuber, hörte er Gunthers sanft-spöttische Stimme sagen, hat es zu allen Zeiten gegeben, mein Freund. Wir werden Reiter aussenden und sie fangen lassen. Du kannst ein Land nicht daran messen, ob es in seinen Grenzen Räuber gibt oder nicht, und die Welt wird nicht untergehen, nur weil dir schlecht geträumt hat.

Ja, genauso würde es kommen, und er, Hagen, würde nicken und es dabei bewenden lassen, so, wie er es immer tat. Er würde nicht sagen, daß er die Vorboten Ragnaröks, des Weltunterganges, am Horizont gesehen hatte. Er würde schweigen, so, wie er geschwiegen hatte, seit er Dankrat auf dem Sterbebett das Versprechen gegeben hatte, sich um seinen Sohn zu kümmern. Ihm zu helfen, die Krone zu tragen, die zu schwer für sein Haupt war; die Stufen zum Thron hinaufzusteigen, die zu hoch für ihn waren. Sich König zu nennen, der er nicht war. Gunther war schwach, aber auf eine sanfte Art, eine Schwäche, die sich in Stärke verwandelte, wenn Hagen ihm gegenüberstand und in seine Kinderaugen blickte. Nein, Hagen würde Gunther nicht sagen, daß er Odin und Thor und Freya angerufen und keine Antwort bekommen hatte, und auch nicht, daß er wußte, was dieses Schweigen der Götter bedeutete. Er hatte mit Gunther darüber gesprochen, er hatte es versucht - einmal, ein einziges Mal nur -, und seither nie wieder. Das Geschlecht der Gidipiden nannte sich jetzt Burgunder und ihr Reich Burgund, und seine Könige hatten sich von den alten Göttern abgewandt, mehr aus politischen Gründen denn aus Gründen des Glaubens, aber über seine Mauern herrschten nun nicht mehr Odins Speer und Thors Hammer, sondern das Kreuz der Christen, und die Asen hatten Christus und den Aposteln Platz gemacht Trotzdem lebten sie noch. Hagen war kein sehr gläubiger Mann. Er wußte nicht, ob es die Götter wirklich gab, seien es die Asen oder der Gott der Christenheit, doch er war überzeugt, daß - wenn es sie gab - sie Besseres zu tun hatten, als sich um die Geschicke einzelner Menschen, ja selbst einzelner Reiche zu kümmern. Aber was er wußte, war, daß sich die Zeiten änderten, schnell und von Grund auf, und jetzt. So, wie die Götter im Nebel Walhallas untergetaucht waren, würde die Welt, über die sie seit Anbeginn geherrscht hatten, in den Flammen Ragnaröks versinken. Vielleicht würde er ihn noch erleben, den Tag, an dem die Vergangenheit endete und die Zukunft begann, aber es würde eine düstere Zukunft sein, und wie jeder Wandel würde er schmerzen und von Blut und Tod begleitet sein. Das war es, was Hagen spürte und was ihm Angst machte.

Er warf das Grasbüschel fort, streifte den Handschuh wieder über und ballte prüfend die Faust Ein leises Raschem drang in seine Gedanken. Hagen sah auf, bemerkte eine huschende Bewegung drüben am Waldrand und war mit einem Satz auf den Füßen. Hastig raffte er seinen Helm auf, setzte mit einem Schritt über den Bach und lief auf den Wald zu. Sein Schwert sprang wie von selbst aus der Scheide, als er in das dichte Unterholz eindrang. Zweige und Blattwerk peitschten sein Gesicht, die dürren, noch blattlosen Äste schienen wie knorrige braune Finger nach seinem Mantel zu greifen und daran zu zerren, als wollte der Geist dieses Waldes ihn mit aller Macht zurückhalten, aber Hagen riß sich los und hackte sich erbarmungslos mit dem Schwert eine Bahn durch Büsche und Wurzeln. Vor ihm waren fliehende Schritte, und ab und zu sah er undeutlich zwischen den Bäumen ein braunes Gewand und langes, dunkles Haar. Hagen stolperte, stützte sich mit der Linken an einem Baumstamm ab und biß die Zähne zusammen, als sich der Schmerz wieder meldete. Der Boden wurde morastiger, je tiefer er in den Wald kam; das Erdreich hatte den Regen wie ein Schwamm aufgesaugt und sich in einen Sumpf verwandelt. Seine Schritte verursachten saugende, schmatzende Geräusche, und mehr als einmal mußte er alle Kraft aufbieten, um überhaupt von der Stelle zu kommen.

Aber der andere schien mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Hagen lief schneller und erreichte endlich trockenen, festen Boden, schnitt dem Flüchtenden mit letzter, entscheidender Anstrengung den Weg ab und warf sich auf die Beine seines Gegners. Sie stürzten. Der andere stemmte sich hastig wieder hoch und versuchte auf Händen und Knien weiterzukriechen und gleichzeitig mit seinen nackten Füßen nach Hagens Gesicht zu treten, traf aber nur den Helm und zog sich eine lange, blutende Wunde an der Ferse zu. Hagen griff mit einer wütenden Bewegung in das schulterlange verfilzte Haar und riß den Kopf des Fremden zurück Ein heller Schmerzenslaut antwortete ihm. Der Fremde stürzte erneut, schlug schützend die Arme über den Kopf und blieb reglos liegen. Hagen ließ sein Haar los, sprang auf die Füße und trat einen halben Schritt zurück Die Spitze seines Schwertes bohrte sich drohend zwischen die Schulterblätter des anderen. »Steh auf«, befahl er. »Aber langsam.«

Der Gefangene erhob sich zögernd auf Hände und Knie, blieb für die Dauer eines Atemzuges reglos hocken und stand schließlich ganz auf. Hagen ließ verblüfft die Waffe sinken. Vor ihm stand eine Frau, genauer - wenn er die zarten Gesichtszüge unter all dem Schmutz und den eingetrockneten Tränen richtig deutete - ein Mädchen; vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahre alt und von zartem, fast knabenhaftem Wuchs. Sie trug ein einfaches, sackähnliches Kleidungsstück das um die Taille von einem Strick zusammengehalten wurde. Ihr langes, strähniges Haar war vermutlich seit dem letzten Sonnwendfest nicht mehr gewaschen worden, und das einzige, was unter der Maske von Schmutz und schwarzen, schmierigen Streifen von ihrem Gesicht wirklich zu sehen war, waren ihre großen, dunklen, ein wenig schrägstehenden Augen, die ihn mit einer schwer zu deutenden Mischung aus Furcht und verhaltenem Trotz anstarrten. Ihre nackten Füße waren mindestens ebenso schmutzig wie ihr Gesicht und die Hände, und über ihrer linken Augenbraue war eine frische Platzwunde, die sie sich bei dem Sturz auf den Waldboden zugezogen hatte. Ihre Ferse blutete stark Sie versuchte vergeblich, auf dem verletzten Fuß ruhig zu stehen.

Das Mädchen gefiel Hagen, ohne daß er hätte sagen können, warum. Er war verwirrt. Plötzlich kam er sich lächerlich vor, wie er so - mit grimmigem Gesicht und gezückter Klinge - vor diesem verängstigten Kind stand. Mit einem etwas verlegenen Lächeln ließ er den Arm des Mädchens los und schob seine Waffe in die Scheide zurück Das Mädchen atmete erleichtert auf, wich einen Schritt zurück und griff mit der linken Hand nach ihrer Schulter. Sein Griff mußte ihr weh getan haben.