Es verging viel Zeit, ehe Siegfried zurückkam. Sie hatten die Lichtung überquert und am Waldrand haltgemacht Hagen sah von Zeit zu Zeit zur Hütte hinüber. Es begann stärker zu schneien, aber es wurde auch ein wenig wärmer, und die Bäume boten Schutz vor dem Wind. Wie oft nach einem starken Schneefall legte sich eine eigentümliche Stille über den Wald und die Lichtung. Ein paarmal glaubte Hagen dumpfe Laute und Schreie zu hören, die aus dem Haus drangen, aber er war sich nicht sicher, und nach einer Ewigkeit war Ruhe, dann trat Siegfried aus dem Haus und ging zu seinem Pferd, ritt jedoch noch nicht los, sondern sah zu, wie seine Männer die Erschlagenen ins Haus trugen. Anschließend zündeten sie die Hütte an. Die Pferde nahmen sie mit.
14
»Schon morgen also.«
Es war Hagen nicht ganz klar, ob Erleichterung oder Sorge aus Gernots Worten klang; vielleicht beides. Sie hatten alle Edelleute in Siegfrieds Zelt im Herzen des Lagers zusammengerufen, und Hagen hatte kurz von ihrer Begegnung mit den Dänen berichtet. Niemand war über die näheren Umstände des Zusammenstoßes sonderlich überrascht gewesen; Sachsen und Dänen waren dafür bekannt, daß sie ihre Landsknechte ungehindert plündern und brandschatzen ließen. Sie hatten damit rechnen müssen, auf kleine Gruppen marodierender Söldner zu stoßen. Womit sie nicht gerechnet hatten, war der Zeitpunkt dieses Zusammentreffens. Nach allem was sie über Lüdegasts Eroberungszüge wußten, ging er immer gleich vor: sein Heer bewegte sich wie ein mordendes Ungeheuer vorwärts und walzte jeden Widerstand nieder; erst in der Folge schwärmten seine Männer aus und mordeten, was noch lebte, stahlen, was des Mitnehmens wert war. Aber die zehn, auf die sie getroffen waren, waren dem Heer vorausgeeilt.
»Schon morgen«, bestätigte Siegfried. »Lüdegast steht mit seinem Heer nur einen halben Tagesritt nördlich von uns. Die, auf die wir getroffen sind, waren Kundschafter. Hätten die Kerle nicht ihre Befehle mißachtet und geplündert, statt auszuschwärmen, dann wüßte Lüdegast jetzt vielleicht schon, daß wir hier sind. Und mit Sicherheit waren diese zehn nicht die einzigen Späher, die er ausgesandt hat«, fügte Siegfried mit Nachdruck hinzu. »In diesem Punkt pflichte ich Hagen bei: wir sind zu viele, um noch lange unentdeckt zu bleiben. Wir sind in der Lage des Wolfes, der sich dem Bären gegenübersieht Wir könnten ihn schlagen, aber nur, wenn wir im bestmöglichen Moment und blitzschnell zuschlagen. Geraten wir zwischen seine Pranken, zermalmt er uns.« Volker sah ihn betroffen an. Der Spielmann schien, ebenso wie viele andere, erst jetzt wirklich zu begreifen, was ihre Begegnung zu bedeuten hatte. »Und was ... folgert Ihr daraus?« fragte er stockend. »Wenn wir den Vorteil der Überraschung behalten wollen«, antwortete Siegfried, »dann müssen wir sofort angreifen. Wenn wir jetzt gleich aufbrechen, dann erreichen wir ihr Lager noch vor Sonnenaufgang.« »Die Männer sind müde«, wandte Gernot ein. »Sie sind den ganzen Tag geritten, Siegfried. Und jetzt noch eine Nacht?« Er schüttelte den Kopf. »Wie sollen wir mit einer Armee übermüdeter Männer eine dreifache Übermacht angreifen und besiegen?«
»Eine doppelte«, korrigierte ihn Siegfried. »Es sind weniger als dreitausend Mann, die meisten davon schlecht ausgerüstet und ohne Pferde. Unsere Aussichten stehen nicht schlecht, Gernot. Lüdegasts Krieger sind undiszipliniert. Ihre Moral ist schlecht, und die meisten von ihnen sind des Kämpfens müde und würden lieber heute als morgen nach Hause gehen. Ein Jahr ist eine lange Zeit, wenn man es mit nichts anderem als mit Kriegführen verbringt«
»Trotzdem.« Gernots Zweifel waren noch nicht ausgeräumt »Euer Wissen gründet sich einzig und allein auf die Aussage eines Feindes, den Ihr gefangen und... ausgefragt habt Woher wollt Ihr wissen, daß er die Wahrheit gesprochen hat?«
»Er hat die Wahrheit gesagt«, entgegnete Siegfried mit einer Kälte und Bestimmtheit, die keinen weiteren Einwand zuließ. »Die Dänen liegen, wie gesagt, einen halben Tagesritt nördlich von hier, und morgen bei Sonnenaufgang werden sie weiterziehen, um sich mit den Sachsen zu vereinen, keine zwei Tage von hier. Wenn wir so lange warten, dann stehen wir achttausend Mann gegenüber, Gernot« Gernot schwieg. Siegfrieds Beweisgründe klangen überzeugend, und sie hatten wohl gar keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Immerhin war Siegfried gewissermaßen ihr Heerführer; er konnte sie nötigenfalls durch Befehlsgewalt zwingen.
»Laßt uns aufbrechen, wie Siegfried es sagt!« rief Giselher aufgeregt Seine Augen leuchteten, und Hagen mußte an Utes Worte denken, aber es war nur ein flüchtiger Gedanke.
»So sei es denn«, sagte Gernot schweren Herzens. »Und wenn es schon sein muß, dann laßt uns keine Zeit mehr verlieren. Jede Stunde, die wir jetzt noch mit Reden vertun, kommt, nach allem, was wir gehört haben, dem Feind zugute.«
Ein zufriedenes Lächeln umspielte Siegfrieds Lippen. Natürlich hatte er gewußt, daß das Gespräch so und nicht anders enden würde. Sonst hätte er sich gar nicht erst darauf eingelassen.
Gernot wandte sich an Sinold, der beim Ausgang stand. »Gib Befehl, das Lager wieder abzubrechen. Die Männer sollen die Pferde satteln und sich für den Abmarsch bereit halten.« »Das wird ihnen nicht gefallen«, sagte Sinold.
»Mir gefällt es auch nicht«, antwortete Siegfried. »Aber den Dänen wird es noch weit weniger gefallen, wenn wir bei Sonnenaufgang über sie hereinbrechen.«
Sinold zuckte wortlos mit den Achseln und ging. »Ich sage Pater Josephus Bescheid«, erbot sich Ortwein. »Er soll die Männer segnen«, fügte er erklärend hinzu, als er Siegfrieds fragenden Blick gewahrte. »Es ist so üblich bei uns, am Abend vor der Schlacht.« Siegfried lächelte nur dazu und wartete, bis Ortwein sich ebenfalls entfernt hatte. Auch Volker und Rumold gingen, und schließlich war Siegfried mit Hagen, Giselher und Gernot allein.
»Es wird wohl das beste sein, wenn auch wir zu unseren Pferden gehen«, meinte Siegfried. »Falls die Männer murren, geben wir ihnen ein Vorbild.«
»Burgunds Männer murren nicht«, sagte Gernot, so scharf, daß es Hagen überraschte. »Sie gehorchen Euren Befehlen, Siegfried. Wenn sie vernünftig sind.«
»Sind sie es denn nicht?« Siegfried stand auf. »Wenn Ihr Zweifel an meinem Plan habt, dann...«
»Die habe ich nicht«, fiel Gernot ihm ins Wort, sprach jedoch nicht weiter, sondern starrte zu Boden und ballte hilflos die Fäuste. Siegfried nickte. »Schon gut«, sagte er in unerwartet versöhnlichem Ton. »Wir sind alle erschöpft und gereizt Morgen um diese Stunde ist alles vorbei. Komm, Giselher...« Er ergriff Giselher kurzerhand am Arm und zog ihn mit sich.
Auch Gernot wollte sich entfernen, aber Hagen hielt ihn zurück. »Auf ein Wort noch, Gernot«, sagte er. »Es kann sein, daß wir später keine Gelegenheit mehr dazu haben werden.«
Gernots Blick spiegelte seine Ungeduld. Rings um sie war das Lager im Aufbruch. Die Dämmerung malte graue Streifen auf den Horizont, und hier drinnen, im Zelt, war es schon beinah Nacht »Es geht um Giselher«, begann Hagen. »Ich habe ihn beobachtet, vorhin. Und was ich gesehen habe, hat mir nicht gefallen. Und es gefällt mir auch nicht, daß er mit Siegfried fortgeht«
Gernots Miene verdüsterte sich. »Mir auch nicht«, sagte er. »Wenn es nach mir gegangen wäre, dann wäre er in Worms geblieben. Er ist zu jung und zu hitzköpfig. Wir werden auf ihn achtgeben müssen, damit er nicht zu Schaden kommt.«»Das ist es, worum ich Euch bitten wollte«, sagte Hagen. »Ich weiß, daß er besser mit Schwert und Speer umzugehen weiß als so mancher andere. Aber es ist auch nicht sein Leib, um den ich fürchte.« Gernot sah ihn fragend an.
»Haltet ihn von Siegfried fern, Gernot«, sagte Hagen leise, aber sehr eindringlich. »Gebt ihm irgendeine Aufgabe, die ihn dem Einfluß des Xanteners und seiner Nibelungen entzieht, soweit das möglich ist.« Gernot sah den Tronjer prüfend an. »Noch immer die alte Fehde, Hagen?«