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»Wer bist du?« fragte Hagen in rauherem Ton, als notwendig gewesen wäre. »Und was suchst du hier?«

»Ich...« Das Mädchen senkte den Blick und sah unsicher zu Boden. »Mein ... mein Name ist Helge«, antwortete sie stockend. Ihr Blick wanderte ängstlich zwischen Hagens Gesicht und der Waffe an seinem Gürtel hin und her.

»Helge.« Hagen nickte. »Und was machst du hier? Weißt du nicht, daß es für ein Mädchen wie dich gefährlich ist, allein in den Wald zu gehen? Es gibt Räuber und Wegelagerer, und ein Kind wie du...« Helge schüttelte unwillkürlich den Kopf, besann sich plötzlich, nickte und wich einen weiteren Schritt zurück Ein Lächeln erhellte ihre Züge, verschwand aber sofort wieder. »Doch.« Ihre Stimme zitterte, und Hagen spürte, daß sie Angst hatte; Angst vor ihm, aber nicht nur. »Und trotzdem gehst du allein und schutzlos in den Wald?« Er sprach jetzt ein wenig sanfter, als wollte er seinen rüden Ton von vorhin und den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, wiedergutmachen. »Ich ... kenne mich hier aus«, antwortete Helge, ohne ihn anzusehen. »Und ich fürchte mich nicht. Niemand könnte mich fangen.« Hagen unterdrückte ein Lächeln. »Ich habe dich doch gefangen«, erinnerte er.

»Aber Ihr seid kein Räuber, Herr«, antwortete das Mädchen, als sei dies Erklärung genug. »Außerdem war ich unvorsichtig. Ihr hättet mich nicht gesehen, wenn ich besser achtgegeben hätte.« »Und warum hast du es nicht getan?«

Das Mädchen zögerte einen Moment. »Ich ... habe Euch beobachtet«, gestand es schließlich. »Euch und die Männer, die mit Euch reiten. Ich habe nie zuvor jemanden wie Euch gesehen. Ihr seid ... Ritter?«

Hagen wußte nicht recht, ob er nun geschmeichelt oder verärgert sein sollte. Im Grunde benahm er sich wie ein Narr, seine Zeit mit diesem Kind zu vergeuden.

»Jedenfalls seid Ihr kein Räuber«, stellte Helge fest und fügte nach einem kurzen, prüfenden Blick auf seine Kleidung hinzu: »Aber Ihr seid auch kein Burgunder.«

»Nein, das bin ich nicht«, lächelte Hagen. »Aber ich bin auf dem Wege nach Worms.«

»Das dachte ich mir.« Helge nickte. »Es sind viele Fremde gekommen im Frühjahr, und sie alle wollten nach Worms. Ihr tragt die Kleidung eines Kriegers, und welches Ziel sollte ein Krieger sonst haben?« »Glaubst du denn, daß man Krieger braucht in dieser Stadt?« fragte Hagen belustigt.

Helge hob andeutungsweise die Schultern und strich sich eine Strähne ihres dunklen Haares aus der Stirn. Die Platzwunde über ihrem Auge hörte auf zu bluten, im gleichen Moment, in dem ihre Finger sie berührten. Sie schien es nicht einmal zu merken. »Ich verstehe nichts davon. Herr«, sagte sie. Nachdem der erste Schreck überwunden war, verlor sie ihre Scheu zusehends. Der Blick mit dem sie Hagen musterte, drückte jetzt mehr Neugier als Angst aus. »Aber meine Mutter sagt, daß sie immer Krieger brauchen in den großen Städten.« Sie sah ihn unverwandt an, zog geräuschvoll durch die Nase hoch und kam einen halben Schritt näher. »Ihr seht müde aus, Herr«, sagte sie. »Habt Ihr eine lange Reise hinter Euch?«

»Ja. Eine sehr lange Reise, Kind.«

»Und Ihr wollt nach Worms. Dann solltet Ihr Euch waschen und die Kleider wechseln. Sie sind sehr vornehm dort in der Stadt Es kann sein, daß sie jemand wie Euch und Eure Begleiter nicht hineinlassen.« Hagen unterdrückte abermals ein Lächeln. Die Kleine gefiel ihm von Minute zu Minute besser, obwohl sie wahrscheinlich nur die Tochter eines armen Bauern oder Taglöhners war. Vielleicht, so dachte er, würde sie in einem vernünftigen Kleid - und sauber gewaschen und gekämmt - sogar ganz hübsch aussehen.

»Und nun zu dir«, sagte er, schlagartig das Thema wechelnd. »Was macht ein hilfloses Kind wie du allein im Wald - wenn es nicht gerade ahnungslose Reisende beobachtet?« Helge schwieg, und für einen flüchtigen Moment kehrte die Furcht in ihren Blick zurück Der Nebel wogte plötzlich stärker und legte sich wie dünner grauer Rauch um ihre nackten Füße, als hätten Hagens Worte die bösen Geister dieses Waldes zurückgerufen. »Ich ... suche Régis«, sagte sie schließlich. »Régis?« Helge nickte. »Unsere Ziege. Mutter hat nur aufgetragen, sie auf die Weide zu führen und zu hüten, aber ich ... bin eingeschlafen, und als ich aufwachte, war sie weg.« Ihre Stimme schwankte. »Bitte, Herr, ich muß sie wiederfinden, ehe die Wölfe sie reißen oder ein anderer sie findet und stiehlt. Mutter wird mich schlagen, wenn ich ohne sie zurückkomme. Die Ziege ist alles, was wir haben. Wir brauchen die Milch und...«

»Ihr seid sehr arm, nicht wahr?« unterbrach sie Hagen, von einem ungewohnten Gefühl des Mitleids erfaßt »Nein«, antwortete Helge in einem Ton, als hätte er etwas sehr Dummes gesagt. »Wir sind nicht reich, aber es geht uns gut - wir hungern nicht, und wenn die hohen Herren zu Worms auf Jagd waren oder ein Fest ausrichten, dann kann meine Mutter manchmal in der Küche aushelfen.« »Und trotzdem schlägt sie dich, wenn du ohne die Ziege zurückkommst«, seufzte Hagen. Helge antwortete nicht, aber Hagen schien auch keine Antwort auf seine Frage zu erwarten. Er überlegte einen Moment, drehte sich halb herum und sah zum Flußufer zurück, wo die anderen seiner harrten. Er hätte längst umkehren müssen. Grimward würde sich um ihn sorgen und sich aufmachen, ihn zu suchen. »Wo ist euer Haus?« fragte er. »Weit von hier?« »Nein«, antwortete Helge zögernd und zeigte unbestimmt nach Westen. »Nicht... nicht sehr. Gleich hinter dem Wald.«

»Dann sieh zu, daß du heimkommst«, sagte Hagen. »Eure Ziege wird sich schon wieder einfinden.« Helge starrte ihn an, und Hagens Verwirrung wuchs. »Nun geh schon«, sagte er grob. »Worauf wartest du? Deine Ziege wird nicht zurückkommen, wenn du hier herumstehst und mich anstarrst.« Er sah, daß das Mädchen unter seinem scharfen Ton zusammenzuckte und die Furcht wieder in ihren Augen aufflackerte. »Deine Mutter wird dir schon nicht den Kopf abreißen«, fügte er etwas sanfter hinzu. Helge senkte den Blick »Gewiß, Herr«, murmelte sie. »Es ist nur...« »Ja?«

»Ich mein Fuß schmerzt so, und ... und ich habe Angst«, stieß sie hervor. »Mutter wird mich schelten, und...«

»Und jetzt willst du, daß ich mitkomme und ein Wort für dich einlege.« Hagen schüttelte den Kopf. Was bildete sich dieses dumme Kind ein? Aber - war es Zufall? - in diesem Moment riß der Nebel, der um die Beine des Mädchens wogte, auf, und Hagens Blick fiel auf ihren zerschundenen Fuß. Die Schramme blutete noch immer, sie mußte tiefer sein, als Hagen gedacht hatte.

»Es ist nicht weit, Herr«, sagte Helge, ohne den Blick zu heben. Sie sprach so leise, daß es fast im Rauschen des Waldes unterging. Hagen seufzte. »Dann komm.« Er war zornig, mehr auf sich als auf sie. Helge atmete erleichtert auf. Sie nickte, drehte sich, noch immer zögernd, um und ging vor Hagen her durch den Wald.

Was mache ich hier eigentlich? dachte er verwirrt und ärgerlich. Ich sollte längst wieder im Sattel und auf dem Weg nach Worms sein! Trotzdem folgte er dem Mädchen tiefer und tiefer in den Wald hinein. Helge humpelte und setzte den verletzten Fuß vorsichtig auf, dennoch schlug sie seine hilfreich dargebotene Hand aus und kam erstaunlich schnell voran. Der Rand des Waldes und die Wiese dahinter waren bald nicht mehr zu sehen. Der Nebel wurde dichter, und die Luft war eisig und klamm und legte sich schwer auf die Brust. Der Bach kreuzte ein zweites Mal ihren Weg, und das Gehen wurde immer mühsamer. Der Boden war hier nicht mehr morastig, sondern hart und steinig und von borkigen, dürren Wurzelfingem durchzogen, die nach seinen Füßen griffen und ihn immer wieder straucheln ließen. Der Nebel hing wie graue Spinnweben von den Ästen, und ein paarmal wurden die treibenden Schwaden so dicht, daß Helges Gestalt vor ihm zu flackern schien. Hagen konnte sich eines seltsamen, bedrückenden Gefühls der Unwirklichkeit nicht erwehren. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß dieser Wald mit seinen schwarzen, fast blattlosen Bäumen und seinem Nebel wenig mehr als einen halben Tagesritt von der Welt entfernt sein sollte, die die Mauern von Worms umschlossen. Endlich lichtete sich der Wald, und Helge deutete voraus. »Dort ist unser Haus, Herr«, sagte sie. Hagen trat mit einem raschen Schritt an ihr vorbei und musterte die ärmliche Hütte, auf die das Mädchen zeigte. Die Hütte war wenig größer als ein Stall, und Hagen fragte sich allen Ernstes, wie Menschen darin leben mochten. Das Dach war notdürftig aus roh bearbeiteten Stämmen gefügt und mit Moos und Laubwerk abgedichtet. Es gab nur ein einziges, schmales Fenster knapp neben der Tür, mit einem schweren Laden verschlossen und die Ritzen ebenfalls mit Moos und Grasbüscheln verstopft, um die Wärme drinnen und die Kälte des Winters draußen zu halten. Aus dem Kamin kräuselte sich dünner Rauch. Das Feuer in der Hütte konnte nicht groß sein; gerade groß genug, um die Feuchtigkeit und die ärgste Kälte zu vertreiben. Ein winziger Verschlag lehnte schräg an einer der Seitenwände, vielleicht der Stall der Ziege, die dem Mädchen entlaufen war. Als sie weitergingen, stob ein räudiger grauer Köter hinter dem Haus hervor und rannte ihnen kläffend entgegen. Hagen schüttelte kaum merklich den Kopf und schluckte, als er Helges Blick begegnete, die spöttische Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge lag.