»Dieser hitzköpfige Narr!« entfuhr es Hagen. »Er wird alles verderben.« Eine Welle von Zorn stieg in ihm hoch. Der Vorteil der Überraschung, den sie - vielleicht - gehabt hätten, war dahin, verschenkt um einer großartigen, doch ganz und gar sinnlosen, eitlen Geste willen. Im Tal unten brach fieberhafte Unruhe aus. Die Männer sprangen von ihrem Lager auf, griffen nach ihren Waffen und eilten zu den Pferden. Bis Gernot mit dem Heer heran war, würde sich der schlaftrunkene Haufen, den sie überfallen wollten, in ein kampfbereites Heer verwandelt haben. Dennoch rührte Hagen sich nicht von der Stelle, sondern blickte gebannt zu Siegfried und Lüdegast hinab.
Die beiden ungleichen Gegner ritten immer schneller. Ihre Lanzen wippten im Rhythmus der Pferde, und das Hämmern der Hufe klang wie dumpfer Trommelschlag herauf.
Der Zusammenprall war fürchterlich. Hagen unterdrückte einen Aufschrei, als die Lanzen mit einem harten, berstenden Laut auf die Schilde krachten. Es ging unglaublich schnell, trotzdem sah Hagen alles mit phantastischer Klarheit, als sorge eine zauberische Kraft dafür, daß den Beobachtern keine noch so geringe Einzelheit des Kampfes entging. Lüdegasts Lanze traf Siegfrieds Schild voll, auf Fingerbreite genau im Mittelpunkt, wo der Stoß die größtmögliche Wirkung erzielte. Siegfrieds Schild knirschte. Lüdegasts Lanze bog sich durch und zerbrach splitternd, aber die Wucht des Aufpralls setzte sich wie eine brandende Woge durch Siegfrieds Arm und Körper bis in den Leib des gewaltigen Schlachtrosses fort und ließ seine Muskeln unter der glatten Haut zittern. Ein keuchender Laut kam über Siegfrieds Lippen und ging im gepeinigten Kreischen des Pferdes unter.
Im gleichen Augenblick traf auch Siegfrieds Lanze ins Ziel. Sein Stoß war ungleich stärker als der Lüdegasts und hätte den Schild und den Körper des Gegners dahinter durchbohrt, hätte er voll getroffen. Aber der Anprall von Lüdegasts Lanzenspitze hatte den Xantener aus dem Gleichgewicht gebracht; seine Lanze traf immer noch den Schild, aber schräg, in falschem, spitzem Winkel, das abgeflachte Ende der Lanze schrammte über den metallverstärkten Eichenschild, riß ein Stück aus seinem Rand und glitt ab. Nur ein Bruchteil der Kraft, mit der die Waffe geführt war, übertrug sich aufs Ziel.
Und trotzdem war der Stoß noch hart genug, Lüdegasts Schildarm hochzureißen und den Dänenkönig halb aus dem Sattel zu werfen. Lüdegast schrie auf. Der Zügel entglitt seinen Händen. Er fiel nach hinten. Einen Moment lang hing er in einer wunderlichen Haltung im Sattel, nur von den Steigbügeln gehalten. Dann richtete er sich auf, riß das Tier herum und fand schwankend sein Gleichgewicht wieder. Im selben Moment entstand im Wald auf dem Hügel eine Bewegung. Gedämpfte Schritte waren zu hören und das Knacken und Bersten von Zweigen. Hagen und die Nibelungenreiter fuhren gleichzeitig herum, griffen zu den Waffen und entspannten sich wieder, als sie Dankwart erkannten. Eine Anzahl Männer begleiteten ihn. In ihren Händen lagen große, gespannte Bogen aus Eibenholz. Alberich hatte also Wort gehalten. Doch daran hatte Hagen im Grunde nie gezweifelt.
Unten auf dem Hang ging der Kampf weiter. Siegfried und Lüdegast hatten ihre Schwerter gezogen und setzten zum entscheidenden Waffengang an. Weit unten, im Tal, schwang sich ein Trupp goldrot gekleideter Männer auf ihre Pferde und bahnte sich eine Gasse durch das Lager. Sie würden zu spät kommen.
Es wurde allmählich hell, und die beiden Kämpfenden waren näher gerückt, so daß Hagen nun auch ihre Gesichter erkennen konnte. Lüdegasts Antlitz war halb unter dem wuchtigen Nasenschutz seines Helmes verborgen. Hagen glaubte zu bemerken, daß er den Schild nur noch mit Mühe halten konnte. Siegfrieds Stoß mußte seinen Arm nahezu gelähmt haben; vielleicht war er gebrochen. Der Däne hockte in merkwürdig verkrampfter Haltung im Sattel.
Siegfrieds Pferd umkreiste das Pferd des Gegners mit kleinen, tänzelnden Schritten. Der Xantener lachte; sein Schwert zuckte immer wieder in Lüdegasts Richtung, ohne ernsthafte Absicht, zu treffen. Lüdegast duckte sich hinter seinen geborstenen Schild und versuchte vergeblich, dem Xantener mit seinem Schwert die Klinge aus der Hand zu schlagen. Er wurde zusehends nervöser, während Siegfried lächelnd sein Spiel mit ihm trieb.
»Was macht er da, bei Thor?« Dankwart hatte sein Pferd neben das seines Bruders gelenkt und schüttelte verständnislos den Kopf. »Warum beendet er den Kampf nicht? Lüdegast ist längst besiegt!« »Er spielt mit ihm«, antwortete Hagen. »Wie die Katze mit der Maus.« »Dann sollte er sich beeilen«, knurrte Dankwart, »damit der Mäuse nicht zu viele werden.« Er wies zum Lager hinab. Die Reiter - es mochten ihrer dreißig sein - hatten das freie Feld erreicht und sprengten jetzt in vollem Galopp heran, um ihrem Herrn zu Hilfe zu eilen. »Hast du Grimward gefunden?« fragte Hagen. »Ja, Herr.« Es war nicht Dankwarts Stimme, die antwortete. Hagen wandte den Blick und lächelte, als er den Langobarden erkannte. »Du weißt, was du zu tun hast«, sagte Hagen. Grimward nickte, schwang sich vom Rücken seines Pferdes und nahm eine Handvoll Pfeile aus dem Köcher an seinem Sattel. Lautlos entfernte er sich, gefolgt von den übrigen Bogenschützen.
Siegfried schien den Trupp Reiter aus Lüdegasts Leibgarde jetzt ebenfalls bemerkt zu haben; vielleicht war er auch einfach nur des Spielens müde. Wie auch immer - er schien entschlossen, dem Kampf nun rasch ein Ende zu bereiten. Er rannte mit seiner ganzen Kraft gegen den Dänen an und trieb ihn mit wütenden Hieben vor sich her. Er focht nicht; er drosch einfach mit seiner ungeheuren Körperkraft auf den Gegner ein und nahm ihm so jede Gelegenheit zur Gegenwehr. Lüdegasts Schwert zerbrach schon unter dem ersten gezielten Hieb des Bahnung, der zweite zerschmetterte den Schild; selbst das Pferd strauchelte unter der ungeheuren Wucht des Schlages. Lüdegasts Panzer war plötzlich besudelt von Blut, das aus zwei tiefen Wunden in seinem Schildarm und seiner Schulter strömte. Dann traf der Balmung Lüdegasts Helm. Es war kein schwerer Schlag: die Spitze des Nibelungenschwertes streifte den Helm anscheinend nur flüchtig. Dennoch klaffte der vergoldete Stahl plötzlich wie unter einem Axthieb auseinander, und ein fingerdicker Blutstrahl schoß hervor und übergoß Lüdegasts Gesicht. Er wankte. Langsam kippte er nach vorne. Seine Hände suchten zitternd am Zaumzeug und an der Mähne des Pferdes Halt und glitten ab.
Aus der Reihe der heranstürmenden Reiter drang ein vielstimmiger, entsetzter Aufschrei. Sie verdoppelten ihre Anstrengungen, kamen rasend schnell näher; gleichzeitig fächerten sie auseinander, um dem Xantener jeglichen Fluchtweg abzuschneiden.
»Grimward!« rief Hagen. Das Unterholz raschelte, Schnee rieselte von den Ästen. Und plötzlich war die Luft vom Peitschen der Bogensehnen und dem Sirren der Pfeile erfüllt. Zwanzig Pfeile, die den heransprengenden Reitern gleichzeitig entgegenflogen, um ihnen einen tödlichen Empfang zu bereiten.
Fast alle trafen ihr Ziel. Die geordnete Formation der Dänen barst auseinander. Ein halbes Dutzend Reiter stürzte, mitunter von zwei oder drei Pfeilen getroffen, aus den Sätteln, andere verloren den Halt, als sich ihre Tiere, vom Pfeilhagel getroffen, aufbäumten oder einfach in blinder Panik durchgingen, gerieten unter die wirbelnden Hufe oder verletzten sich beim Sturz auf den hartgefrorenen Boden. Siegfrieds Arm schoß vor. Blitzschnell versetzte er Lüdegast einen Hieb mit der bloßen Faust, der ihn vollends aus dem Sattel warf und über den Hals seines Pferdes sinken ließ, riß sein Schwert in die Höhe und jagte den Dänen entgegen, einen gellenden Kampfschrei auf den Lippen. Wieder sirrten die Bogensehnen, und wieder fanden die Pfeile mit tödlicher Sicherheit ihr Ziel. Dann war Siegfried heran und fuhr wie ein zorniger Gott unter das knappe Dutzend verstörter Männer, das den Pfeilregen überlebt hatte. Siegfried tötete sie alle.
Er hatte den Schild weggeworfen und schwang den Balmung mit beiden Händen. Die Wunderklinge zerbrach Schwerter, zertrümmerte Schilde und Brustpanzer und Helme und mähte eine blutige Gasse durch die Reihe der Dänen. Der Balmung fuhr wie ein Blitz unter sie, schlug einen nach dem anderen und ließ ihn zu Tode getroffen aus dem Sattel stürzen. Die beiden letzten Überlebenden des Gemetzels ergriffen in panischer Angst die Flucht, aber Siegfried setzte ihnen nach, schmetterte dem einen seine gewaltige Faust in den Nacken und tötete den anderen mit einem mühelosen Schwertstreich. Dann zwang er sein Pferd herum und jagte in gestrecktem Galopp zu Lüdegast zurück Kaltes Entsetzen hatte Hagen gepackt, eine nie gekannte Furcht, die etwas Neues, Schreckliches in seiner Seele weckte. Zum zweiten Mal hatte er Siegfried ernsthaft kämpfen gesehen, nicht wie ein Mensch kämpft, sondern das Toben eines zornigen Gottes, der seine Feinde zerschmettert. Wer immer Siegfried war, dachte Hagen, und die Ahnung wurde für ihn zur Gewißheit - wer immer er war, er war kein Mensch. Im Lager der Dänen brach ein Tumult los, als Siegfried Lüdegasts Pferd am Zügel herumriß und dann, während er mit der linken Hand den König stützte, mit der rechten sein Schwert hochriß. »Männer Lüdegasts!« rief er, und seine Stimme schnitt durch die Luft wie sein Schwert und drang bis in den entferntesten Winkel des Lagers. »Männer aus Dänemark!« Es kam Hagen so vor, als würde Siegfrieds Stimme immer noch lauter. »Legt die Waffen nieder! Das Kämpfen hat ein Ende!« Er stieß sein Schwert in die Scheide zurück und umfaßte nun mit beiden Händen Lüdegast, um ihn im Sattel aufzurichten. Hagen konnte nicht erkennen, ob der Dänenkönig noch lebte; sein Kopf pendelte haltlos hin und her, und sein Gesicht war eine Maske aus Blut. »Ich bin Siegfried von Xanten! Euer König ist besiegt und unser Gefangener! Ihr habt keinen Grund mehr, in die Schlacht zu ziehen. Geht nach Hause zu euren Weibern und Kindern!«