»Die Sachsen?« Es gelang Siegfried nicht ganz, sein Erschrecken zu verbergen. »Lüdegers Heer?« Thomas nickte. »Haben sie dich bemerkt?«
»Wir... wir waren drei, Herr«, antwortete der Krieger stockend. »Die beiden anderen sind tot. Ich konnte mit knapper Not entkommen. Aber ich bin sicher, daß Lüdeger von unserem Nahen unterrichtet ist« »Woher willst du das wissen?«
»Ihr habt nicht gesehen, wie er sein Heer antreibt, Herr. Die Fußtruppen rennen im Laufschritt, und die Reiterei...« Thomas unterbrach sich, um keuchend Atem zu schöpfen. »Alles deutet darauf hin, daß sie auf eine Begegnung vorbereitet sind. Sie wollen sich mit den Dänen vereinen.« Hagen, der bisher geschwiegen hatte, warf mit finsterer Miene ein: »Vor einer Stunde hatten wir die Dänen noch in der Falle, und jetzt sitzen wir selbst darin.«
»Aber wie kann das sein?« ereiferte sich Siegfried. Zorn flammte in seinen Augen. »Wir sind verraten worden!«
»Unsinn«, entgegnete Hagen. »Wir sind mehr als zwölfhundert Mann. Ihr könnt nicht im Ernst erwarten, ein solches Heer zehn Tage über Land zu führen, ohne daß es jemand merkt Es gibt keine Verräter unter uns.« Hagen sah, daß Siegfried nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren. Der Xantener tat Hagen in seinem hilflosen Zorn fast leid. Soeben erst war er als Held zurückgekommen, als der Mann, der ganz allein die erste Schlacht gewonnen hatte. Jetzt, nach dem kurzen Bericht des Spähers, zählte seine Tat nichts mehr. Hätten sie mehr Zeit gehabt, hätten sie vielleicht mit Lüdeger verhandeln können, indem sie seinen Bruder als Geisel benutzten. Aber so - mit einer samt Lüdegasts Kriegern sechsfachen Übermacht - würde er sie zermalmen.
»Wir müssen aus diesem Tal heraus«, fuhr Hagen, an Volker und Gernot gewandt, fort »Mit den Dänen vor uns und den Sachsen im Rücken wird es wirklich zu einer Falle.«
»Ich fürchte, es bleibt uns gar keine andere Wahl mehr, als Lüdeger direkt anzugreifen«, murmelte Gernot Hagen schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht«, sagte er. »Die Sachsen sind viermal so stark wie wir. Und wenn uns die Dänen in den Rücken fallen...«
»Ein Grund mehr, keine Zeit zu verlieren und unverzüglich zu handeln«, sagte Siegfried. »Was hat sich schon geändert? Sind wir nicht hierhergekommen, um die Sachsen und die Dänen zu schlagen?« Hagen sah ihm fest in die Augen, konnte aber nur Hochmut und Trotz in ihnen lesen. »Nacheinander und nach einem wohldurchdachten Plan«, sagte er. »Aber nicht so. Die Dänen werden nicht lange brauchen, um sich von ihrem Schrecken zu erholen.« »Worauf warten wir dann noch?« fragte Siegfried kühl. Hagen zögerte mit der Antwort Es gab viele Gründe, die gegen einen sofortigen Angriff sprachen. Aber im Grunde hatten Siegfried und Gernot recht Es war ein verzweifeltes Unterfangen - und trotzdem der einzige Ausweg, der ihnen blieb, wollten sie nicht den Rückzug antreten und sich damit geschlagen geben. »Also gut«, sagte Hagen.
Siegfrieds Haltung entspannte sich, und Hagen mußte an dessen Worte vom vergangenen Abend denken. Jedermann weiß, daß Ihr der wahre Herr von Burgund seid, hatte Siegfried gesagt. Wenn das stimmte, dann lag die Verantwortung jetzt in seinen Händen.
Plötzlich fühlte er sich von einer wohlbekannten, zitternden Spannung erfüllt; jetzt, da die Entscheidung gefallen war, spürte Hagen wieder die alte Entschlossenheit und Tatkraft, die ihn zu so vielen Siegen getragen hatte.
»Volker!« befahl er. »Sagt den Männern, was sie zu tun haben. Alles, was nicht für den Kampf gebraucht wird, bleibt hier: Decken, Nahrung, Wasser, Feuerholz - alles, außer den Waffen. Sinold, Ihr sucht hundert Mann aus und schickt sie auf jene Anhöhe dort. Sie sollen sich den Dänen zeigen und glauben machen, das ganze Heer wäre noch hier. Jeder Augenblick, den wir sie noch aufhalten, zählt. Wenn wir zwischen die beiden Heere geraten, sind wir verloren. Gernot - gebt Befehl, daß eine Abordnung von einem Dutzend Reitern Lüdegast nach Worms bringt. Wenn wir geschlagen werden, ist er Gunthers letztes Faustpfand.« Gernot lächelte. »Jetzt erkenne ich den alten Hagen wieder«, sagte er. »Wir haben ihn lange vermißt.«
Hagen schnaubte. »Dann betet zu Eurem Gott, daß Ihr noch lange Gelegenheit haben werdet, ihn zu vermissen.« Er löste seinen Schild vom Sattelgurt. »Und nun kommt«, sagte er. »Wir haben einen Krieg zu gewinnen.«
17
Das Wetter verschlechterte sich, je weiter sie nach Osten kamen. Es wurde kälter, und gleichzeitig steigerte sich der Wind zum Sturm, so daß der Schnee fast waagrecht über das Land gepeitscht wurde und wie mit Nadeln in ihre Gesichter stach. Sie ritten schnell; nicht im Galopp, aber doch in einem raschen, kräftezehrenden Trab, der mehr von Mensch und Tier verlangte, als ihnen nach einer durchwachten Nacht zuzumuten war. Der tobende Sturm und der immer dichter fallende Schnee machten es ihnen unmöglich, etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Einmal glaubte Hagen die Lichter eines Dorfes zur Linken vorüberziehen zu sehen, doch als er sich umwandte, war alles wie ein Spuk im Schneegestöber verschwunden.
Hagen mußte sich eingestehen, daß er die Orientierung verloren hatte. Er ritt, kaum eine Pferdelänge hinter Siegfried, an der Spitze des Heeres, aber beide wußten nicht mehr, wo sie sich befanden, und folgten blind dem Kundschafter. Der Sturm und der wirbelnde Schnee tauchten das Land ins Unwirkliche, Geisterhafte. Vielleicht, dachte er, würden sie Lüdegers Heer gar nicht finden. Ein kleiner Irrtum des Kundschafters, ein winziges Abweichen von der Richtung, und sie würden an den Sachsen vorbeiziehen, ohne es zu merken.
Hagen verscheuchte den Gedanken. Ein Heer von fünftausend Mann konnte nicht einfach verschwinden, auch nicht in einem Unwetter wie diesem. Sie würden Lüdeger finden. Und wenn nicht, dann fand er sie. Siegfried ließ sein Pferd langsamer traben, damit Hagen aufholen und an seine Seite gelangen konnte. »Es kann nicht mehr weit sein!« schrie der Xantener über den Sturm hinweg. Sein Gesicht war von Kälte, Schnee und Wind gerötet. Sein Haar wurde von einem Stirnband gehalten, aber er trug auch jetzt keinen Helm.
»Ja!« schrie Hagen zurück. »Und wahrscheinlich sind die Dänen bereits hinter uns her!«
»Keine Sorge, Hagen!« antwortete Siegfried. »Unser Vorsprung ist groß genug. Bis sie uns eingeholt haben, ist alles vorbei. So oder so.« Hagen zog sich in seine Gedanken zurück. Das schlimme war, daß Siegfried recht hatte. Sie waren den Sachsen vier zu eins unterlegen und konnten sich auf keinen langen Kampf einlassen. Wenn sie überhaupt eine Chance hatten, mußte die Entscheidung schnell fallen. Nach einer Weile tauchte der Schatten eines Reiters vor ihnen auf, fiel zurück und holte langsam wieder auf, als sich sein Pferd ihrem Tempo mühsam anpaßte. Hagen bedeutete Siegfried, etwas langsamer zu reiten, als er den Mann erkannte. Es war einer der Kundschafter, die sie vorausgeschickt hatten. Er war vollkommen erschöpft. Sein Pferd hatte kaum noch die Kraft, mit ihren Tieren Schritt zu halten. »Sie sind vor uns, Herr!« schrie er. »Die Sachsen!« »Gut!« brüllte Siegfried zurück. »Stoße zu Gernot und Volker und sage ihnen, daß sich das Heer bereithalten soll!« »Aber die Sachsen wissen, daß wir kommen, Herr!« »Um so besser! Dann wollen wir sie nicht warten lassen!« Siegfried gab seinem Pferd die Sporen und winkte Hagen, ihm zu folgen. »Vorwärts, Hagen von Tronje! Für Burgund und Xanten!« Schemenhaft tauchten die Nibelungenreiter aus dem Schneetreiben auf und formierten sich um ihren Herrn, und auch Hagens Pferd fiel in einen scharfen Galopp. Hagens Gedanken überschlugen sich. Sie hatten nicht mehr über die mögliche Taktik ihres Vorgehens gesprochen, denn diese hing von zu vielen Dingen ab, die erst im letzten Augenblick offenbar werden würden: dem Aufmarsch von Lüdegers Truppen, dem Gelände, der feindlichen Bewaffnung und tausend anderen Unwägbarkeiten. Hagen hatte daher angenommen, daß Siegfried kurz vor dem eigentlichen Zusammenstoß noch einmal würde anhalten lassen, um die Truppen zu formieren und einen Plan zu entwerfen. Aber wie es aussah, hatte der Xantener nichts dergleichen im Sinn. Hagen begann zu ahnen, daß Siegfrieds Art, ein Heer zu führen, sich nicht wesentlich von seiner sprunghaften Art zu kämpfen und zu reden unterschied.