Der Kampf wogte hin und her. Die Sachsen wichen weiter zurück, aber der Vormarsch der Burgunder geriet allmählich ins Stocken, und Hagen wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis er zum Stillstand gekommen sein würde. Hagen kämpfte jetzt kaum noch, sondern beschränkte sich darauf, zurückzuschlagen, wenn er angegriffen wurde. Sein Gesicht schmerzte unerträglich, und sein linkes Auge war noch immer blind. Siegfried blieb weiter unsichtbar, statt dessen erspähte Hagen nun Giselher. Der junge König hatte alle Warnungen und Befehle Gernots in den Wind geschlagen und kämpfte in vorderster Linie. Sein Umhang war zerfetzt und mit Blut getränkt, doch er selbst schien unverletzt zu sein. Hagen fluchte. Er gab seinem Pferd die Sporen, als er die Gefahr erkannte, in der Giselher schwebte. Einer der Sachsen mußte das Königswappen auf dessen Schild erkannt haben. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf Giselher, und eine ganze Schar Sachsen mit ihm. Giselher blutete bereits aus mehreren Wunden, als ihm eine Anzahl burgundischer Reiter zu Hilfe kam.
Hagen schwang seine Klinge und schlug einen Sachsen nieder, der sich mit der Linken an Giselhers Sattel krallte und mit der anderen Hand einen Dolch zückte, mit dem er nach Giselhers Gesicht zu stechen versuchte. Der Mann sackte lautlos zurück, als ihn Hagens Hieb traf, aber sofort war ein anderer an seiner Stelle und schwang eine Keule. Hagen fing den Hieb mit seinem Schild auf und schlug gleichzeitig zurück. Er traf, aber der doppelte, jähe Aufprall ließ ihn den Halt verlieren und kopfüber aus dem Sattel stürzen. Er fiel, rollte sich blitzschnell zur Seite, um nicht unter die wirbelnden Hufe seines eigenen Pferdes zu geraten, und sprang wieder auf die Füße, gerade rechtzeitig, um einem heimtückischen Schwertstreich zu entgehen. Wütend schlug er zurück, aber mit nur einem Auge fiel es ihm schwer, die Entfernung zu schätzen; sein Hieb ging ins Leere, und der Sachse nutzte die Gelegenheit, ihm einen tiefen Stich in den Oberschenkel zu versetzen.
Hagen taumelte, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Der Sachse stieß einen triumphierenden Schrei aus und setzte ihm nach. Aber er kam nicht dazu, den entscheidenden Hieb anzubringen. Ein gewaltiges Streitroß erschien hinter ihm, eine Klinge blitzte, und das Frohlocken in seinen Augen verwandelte sich in blankes Entsetzen, als die Klinge auf ihn herabfuhr. Lautlos kippte er zur Seite.
Hagen stemmte sich hoch, hob automatisch Schwert und Schild auf und sah zu seinem Retter empor. Es war Giselher. Sein Gesicht war zu einer grinsenden Grimasse verzerrt. »Alles in Ordnung, großer Held?« Hagen nickte. »Danke.«
Giselher winkte ab. »Dazu besteht kein Grund, Hagen. Ich zahle meine Schulden immer schnell zurück, das wißt Ihr doch.« Hagen sah sich nach seinem Pferd um. Der Schecke war im Kampfgetümmel verschwunden, aber es gab genug herrenlose Tiere, und kurz darauf saß er wieder im Sattel. Der Kampf hatte sich ein Stück weiter nach vorne verlagert, aber Hagen sah auch, daß der Vormarsch der Burgunder immer mehr ins Stocken geriet. Sie hatten ihre Kraft verbraucht und flössen nun wie eine Brandungswelle langsam zurück. Der Sturm spie immer mehr Sachsen aus, und ihre Zahl schien unbegrenzt »Was ist mit Euren Wunden, Giselher?« fragte Hagen. Giselher machte eine wegwerfende Bewegung. Er hatte drei üble Stiche an Armen und Beinen, die stark bluteten und heftig schmerzen mußten. »Nicht der Rede wert«, sagte er.
»Nicht der Rede wert?« Hagen runzelte die Brauen. »Mir wäre trotzdem lieber, wenn Ihr Euch zurückziehen würdet.«
»Seht Euch selbst an, Hagen«, erwiderte Giselher trotzig. »Außerdem gibt es kein Zurück mehr - schaut Euch doch um.«
Hagen folgte seinem Blick. Das Schneetreiben hatte fast vollständig aufgehört, so daß man jetzt einen großen Teil des Schlachtfeldes überblicken konnte. Sie befanden sich in einem schmalen, rechts und links von spärlich bewaldeten Hügeln gesäumten Tal, fast genau in dessen Mitte und im Zentrum des sächsischen Heeres. Dieses bestand aus zwei gleichstarken Abteilungen, die sich in einigem Abstand voneinander vorwärts bewegt hatten und deren eine sie mit ihrem plötzlichen Angriff in einen kopflos flüchtenden Haufen verwandelt hatten.
Aber die zweite Hälfte von Lüdegers Heer, die sich über die Hügel verteilt hatte, wälzte sich bereits auf der linken Seite heran, eine gewaltige, quirlende Masse von Männern und Tieren, die sich über die Flanke des Hügels ergoß, um den Burgundern in den Rücken zu fallen und die Falle, in die diese sich selbst gebracht hatten, zuschnappen zu lassen .., Hagen fluchte. »Wo ist Siegfried?«
Giselher deutete voraus zur Spitze des burgundischen Stoßkeils. »Irgendwo dort vorne. Er scheint sich vorgenommen zu haben, den Krieg ganz allein zu gewinnen.«
Hagen gab seinem Pferd die Sporen und jagte los. Er entdeckte Siegfried bald. Nun, da die Sicht klar war, überragte seine breitschultrige Gestalt das wogende Meer der Kämpfenden. Siegfrieds Klinge blitzte immer wieder auf und fuhr mit Hieben, die nichts an Kraft und Schnelligkeit eingebüßt hatten, auf die Sachsen herunter. Es war jetzt nur noch Siegfried allein, der die Burgunder weiter vorwärts trug. Hagen versuchte schneller zu reiten, aber es ging nicht. Die Bresche, die sie in das sächsische Heer geschlagen hatten, begann sich zu schließen, als von den Hängen zu beiden Seiten frische Krieger herbeiströmten und die wankenden Schlachtreihen der Sachsen verstärkten. Hagen wurde immer öfter in Kämpfe verstrickt, und mehr als nur einmal bewahrten ihn nur Schild oder Kettenhemd vor einer neuen Verletzung. Aber er näherte sich Siegfried; langsam, aber stetig.
»Lüdeger!« brüllte Siegfried. »Wo seid Ihr? Hier ist Siegfried von Xanten, der Euren Bruder schlug! Kommt her und rächt ihn, wenn Ihr den Mut dazu habt!« Trotz des unbeschreiblichen Getöses der Schlacht war seine Stimme weithin zu vernehmen. »Kommt her, Lüdeger! Oder seid Ihr zu feige?« Der Ansturm der Sachsen nahm zu, und die Reihen der Burgunder lichteten sich mehr und mehr; Lücken, die nicht mehr geschlossen werden konnten, denn während die Sachsen nach Belieben frische Truppen in die Schlacht werfen konnten, war die Zahl der Burgunder begrenzt, und jeder Tote oder Verwundete zählte doppelt und dreifach. »Lüdeger!« rief Siegfried wieder. »Wo seid Ihr? Seid Ihr ein Mann oder eine feige Memme, die sich hinter den Röcken ihrer Amme versteckt?« Ein zorniges Brüllen antwortete ihm. Vor dem Xantener öffnete sich eine Gasse in den Reihen der sächsischen Reiter, durch die ein einzelner, in flammendes Rot und Gold gekleideter Reiter heranjagte. Es war Lüdeger, mußte Lüdeger sein, nach allem, was Hagen über ihn gehört hatte. Er war ein Riese, fast so groß wie Siegfried und ebenso breitschultrig, aber massiger und von einer Statur, die nur scheinbar plump und schwerfällig war. Das Schwert in seiner Hand war eine Waffe, die ein normal gewachsener Mann höchstens als Einander hätte fuhren können. Und dazu sein Pferd: es war das gewaltigste Streitroß, das Hagen jemals gesehen hatte, ein Ungeheuer von einem Pferd. Ein würdiger Gegner für den Xantener, dachte Hagen. Gebannt starrte er Lüdeger entgegen. Er merkte kaum, daß der Kampf rings um Siegfried und den heranstürmenden Sachsenkönig zum Erliegen kam und die sächsischen Krieger, die den Xantener gerade noch bedrängt hatten, ihre Waffen senkten und zurückwichen, um eine Arena für die beiden gewaltigen Gegner zu bilden. Der Ausgang des Zweikampfes würde die Schlacht entscheiden.
Lüdeger und sein Roß jagten heran wie eine Lawine aus Fleisch und Zorn. Siegfried erwartete sie scheinbar gelassen. Als sich der Kreis um ihn weitete, zwang er sein Pferd mit kleinen, tänzelnden Schritten zurück, senkte das Schwert ein wenig und warf den Schild fort. Gegen eine Waffe wie die Lüdegers war er nutzlos.