Lüdeger sprengte in vollem Galopp heran. Das Schwert beschrieb blitzende Kreise über seinem Kopf, und unter den Hufen seines Pferdes spritzten Steine und Schlamm davon. Siegfried wich ein weiteres Stück zurück Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck äußerster Gespanntheit. Er schien zu überlegen, auf welche Weise er seinen Gegner am besten empfangen konnte. Lüdegers Erscheinung mußte selbst ihn überrascht haben.
Der Sachsenkönig nahm ihm die Entscheidung ab. Wie Siegfried zuvor gegen das Heer der Sachsen, so stürmte er nun mit ungebremstem Tempo heran, um seinen Gegner gleich im ersten Ansturm über den Haufen zu reiten. Hagen hielt den Atem an.
Siegfried wartete bis zum letzten Moment, ehe er reagierte. Aber er riß sein Pferd nicht etwa herum oder zur Seite, um Lüdeger auszuweichen, sondern lenkte es mit einem gewaltigen Satz direkt auf den König der Sachsen zu.
Die Flanken der beiden Tiere berührten sich, als sie aneinander vorüberjagten. Lüdegers Schwert fiel herab, verfehlte Siegfried und riß eine tiefe Furche in den Boden; gleichzeitig zuckte der Balmung hoch und schlug Funken aus Lüdegers Waffe. Siegfried versuchte, seine Wunderklinge einzusetzen, um Lüdegers Waffe zu zerbrechen. Aber ganz offensichtlich hatte er den Sachsenkönig unterschätzt Lüdeger riß sein Pferd gewaltsam herum, packte sein Schwert mit beiden Händen und ließ es mit aller Kraft auf den Xantener heruntersausen. Diesmal kam Siegfrieds Reaktion zu spät Es war nicht mehr möglich, dem Hieb auszuweichen oder die Klinge abzulenken, und so blieb ihm nur eines: er riß den Balmung hoch, packte die Klinge mit beiden Händen an Griff und Spitze und fing Lüdegers Schlag auf. Hagen hatte das Gefühl, den Hieb in den eigenen Knochen zu spüren. Siegfried schrie auf, brach wie vom Blitz getroffen im Sattel zusammen und fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder. Lüdegers Schwert sprang mit hellem Klingen zurück, aber die ungeheure Wucht des Schlages ging durch Siegfrieds Körper, ließ ihn zum zweiten Male aufschreien und schließlich sein Pferd mit einem schmerzerfüllten Kreischen in die Knie brechen.
Ein vielstimmiger, ungläubiger Aufschrei erhob sich aus den Reihen der Männer, die den Kampf beobachteten. Hagen erbleichte. Das Undenkbare war Wahrheit geworden, das Unmögliche geschehen! Siegfried, der Drachentöter, besiegt, von der Hand eines sterblichen Menschen geschlagen!
Aber Siegfried fiel nicht. Sein Pferd brach schreiend in die Knie, doch Siegfried riß es zurück, fing den Sturz mit seiner ganzen Körperkraft auf und zog es wieder in die Höhe. Das Tier kreischte abermals vor unerträglichem Schmerz. Hagen sah, wie sein Kopf mit furchtbarer Kraft in den Nacken gerissen wurde und Blut aus seinem Maul schoß, als Siegfried mit aller Gewalt an den Zügeln riß. Das Pferd bäumte sich auf, stieg auf die Hinterhand und schrie. Siegfrieds Schwert blitzte. Ehe Lüdeger, der wie alle anderen gebannt mit einer Mischung aus Furcht und schierem Unglauben auf Siegfried starrte - ehe Lüdeger sich versah, krachte der Balmung auf seine Waffe herab und zerbrach sie in zwei Teile. Lüdeger wankte. Die ungeheure Erschütterung durch den Schlag ließ ihn zusammensacken und vornüber auf den Hals seines Rosses sinken. Siegfrieds Pferd bäumte sich auf und versuchte den Peiniger von seinem Rücken zu werfen. Aber mit der gleichen Kraft, mit der der Xantener vorher seinen Sturz aufgefangen hatte, brach er nun seinen Willen und zwang es mit einem Satz erneut dem Sachsenkönig entgegen.
Lüdeger stemmte sich mühsam im Sattel hoch. Sein Gesicht war verzerrt, nicht aus Angst vor dem tödlichen Streich, sondern vor abgrundtiefer, hilfloser Furcht, die einen Menschen im Angesicht eines tobenden Gottes ergreift »Gnade!« keuchte er. »Ich ... bitte Euch, verschont mich, Herr. Ich bin geschlagen.«
Siegfrieds Schwert, bereits zum Schlag erhoben, verharrte. Seine Augen flammten.
»Schwörst du Burgund die Treue und gelobst, den Frieden zu halten, solange du lebst?« fragte er. »Ich ... schwöre es«, antwortete Lüdeger. Seine Stimme zitterte, und er hatte Mühe, sich im Sattel zu halten. Siegfrieds Hieb mußte ihn bis ins Mark erschüttert haben. »Alles, was mein ist, soll Gunther von Burgund gehören - mein Reich, mein Gold und mein Waffenarm. Schenkt mir das Leben, und ich bin sein Sklave.«
Siegfried senkte langsam das Schwert, beugte sich vor und ergriff Lüdegers Pferd am Zügel. »Der Krieg ist vorbei!« rief er. »Hört ihr es, Männer aus Sachsen? Der Krieg ist zu Ende! Legt die Waffen nieder. Euer König ist besiegt.« Seine Worte waren weithin zu vernehmen, und die Nachricht pflanzte sich mit Windeseile fort Hagen erwachte wie aus einem Traum. Burgunder und Sachsen, die soeben noch erbittert gekämpft hatten, ließen die Waffen sinken. Da und dort war noch ein Handgemenge im Gange, aber das Klirren der Waffen verstummte mehr und mehr. Es war vorbei. Sie hatten gesiegt Hagen fühlte sich wie betäubt. Sie hatten die Sachsen geschlagen. Das Unmögliche war geschehen. Sie hatten einen Gegner geschlagen, der ihnen an Zahl viermal überlegen war, nicht durch List oder einen taktischen Geniestreich, sondern durch die Kraft eines einzelnen Mannes. Zum zweiten Mal war es Siegfried gewesen, der den Krieg für sie gewonnen hatte. Ganz allein.
Hagens Wunde begann stärker zu schmerzen. Er hob den Arm, zerrte den Handschuh mit den Zähnen herunter und fühlte warmes, klebriges Blut über seine Wangen rinnen. Sein Gesicht war unförmig geschwollen und fühlte sich trotz der Schmerzen taub an, und für einen Moment wurde ihm übel. Er schob sein Schwert in den Gürtel zurück, hängte den Schild an den Sattelgurt und wendete sein Pferd. Er gewahrte Gernot ein Stück hinter sich, preßte dem Tier sanft die Schenkel in die Seiten und ließ die Zügel schleifen, weil er nicht mehr die Kraft hatte, sie zu halten. Trotzdem straffte er die Schultern; Gernot und die anderen sollten nicht sehen, daß er sich nur noch mit letzter Kraft im Sattel hielt. Von links näherte sich Volker, begleitet von einem Troß Reiter und die Lanze mit dem Wimpel Burgunds stolz erhoben, und kurz darauf stießen auch Giselher und Rumold zu ihnen.
Natürlich war es Giselher, dessen Stimme alle anderen übertönte. »Wir haben gesiegt!« rief er aufgeregt. »Gernot, Volker - wir haben sie geschlagen!«
»Nicht wir«, sagte Hagen scharf. »Siegfried.«
Giselher wollte auffahren, hielt jedoch erschrocken inné, als er Hagens Gesicht sah. »Gütiger Gott!« rief er. »Hagen, Euer Auge! Ihr...« Hagen schnitt ihm mit einer ärgerlichen Bewegung das Wort ab. Er war nicht bereit, sich von dem, was er Giselher zu sagen hatte, ablenken zu lassen. Giselhers Gesicht flammte trotz seiner eigenen Verletzungen vor Erregung und Freude. Es war Giselhers erste Schlacht gewesen, sein erster ernsthafter Kampf, und die Begeisterung leuchtete ihm noch aus den Augen. Was Hagen sich vorgenommen hatte, war grausam, aber es mußte sein, und zwar jetzt gleich; nicht später, wenn das Gift, von dem Giselher gekostet hatte, bereits in seine Seele gesickert war. Hagen bewegte sich vor, packte Giselhers Handgelenk und drückte zu, so fest, daß Giselher vor Schmerz aufstöhnte. Mit einem Ruck riß Hagen seinen Arm herum und zwang ihn, seine eigene Hand anzusehen. »Siehst du diese Hand?« herrschte er ihn an. »Es ist deine Hand, Giselher. Sieh sie dir genau an! An ihren Fingern klebt Blut, und es ist nicht deines. Glaubst du, daß Gott dir diese Hand gegeben hat, um zu töten?« Er ließ Giselhers Arm los und stieß ihn von sich; so heftig, daß er beinahe aus dem Sattel gestürzt wäre. »Gott hat dir deine Hände gegeben, um zu arbeiten, um Häuser zu bauen und den Boden zu bestellen, Giselher. Um zu streicheln und Wunden zu heilen, nicht, um sie zu schlagen. Sie sind zum Erschaffen da, nicht zum Zerstören.«
Giselher starrte ihn an. Alle Freude und aller Triumph waren aus seinem Blick gewichen. Seine Lippen zuckten, und in seinen Augen schimmerten plötzlich Tränen, aber es waren Tränen der Wut. In diesem Moment haßte er Hagen, aber das war gut so, denn dem Haß würde - vielleicht - Einsehen folgen. Sekundenlang starrten sie sich an, und Hagen konnte den Kampf, der hinter Giselhers Stirn tobte, deutlich sehen. Dann riß Giselher sein Pferd herum, gab ihm die Sporen und galoppierte davon. Gernot blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Das war hart, Hagen«, sagte er leise. »Glaubt Ihr, daß es wirklich nötig war - so?« »Es ist nichts anderes, als was ich Euch gelehrt habe, und Euren Bruder Gunther«, erwiderte Hagen. Schmerzen zogen sich wie ein dünnes feuriges Geflecht durch sein Gesicht, und für einen Moment begann sich Gernots Gestalt auf unmögliche Weise zu verbiegen, als betrachtete er ihn durch einen Zerrspiegel.