»Nicht so«, widersprach Gernot. Seine Stimme klang fremd, merkwürdig hallend und dumpf. »Nicht so scharf, Hagen.«
Hagen fror. Seine Arme und Beine begannen zu zittern. »Es mußte... sein«, antwortete er schleppend. »Oder wollt Ihr, daß Euer Bruder... zu einem zweiten... Siegfried wird?« Er wollte noch mehr sagen, aber er konnte es nicht. Ein weißglühender Dolch bohrte sich durch sein linkes Auge tief in seinen Schädel. Er stöhnte, begann im Sattel zu wanken und hörte wie aus weiter Ferne, wie Gernot erschrocken aufschrie und nach dem Wundscher rief, dann wurde alles unwirklich, und die Welt versank in Schwärze und Blut und Schmerzen. Gernot und Volker fingen ihn auf, als er aus dem Sattel stürzte.
18
Es folgte eine Zeit der Schmerzen. Hagen verlor jede Beziehung zur Wirklichkeit. Er wußte nicht mehr, ob es Tag war oder Nacht, ob er träumte oder wachte, ob die Gesichter, die er sah, wirklich oder ein Teil der Alpträume waren, die ihn quälten. Das Fieber wühlte sich in seinen Körper, und düstere Visionen marterten seinen Geist. In unregelmäßigen Abständen machte sich jemand an seinem Gesicht zu scharfen, aber die meiste Zeit spürte er nichts, sondern dämmerte in einem grauen Zwischenbereich zwischen Schlaf und Bewußtlosigkeit dahin. Etwas Großes, Dunkles und Körperloses griff immer wieder nach ihm, eine allumfassende Schwärze, die tiefer als der Schlaf war, sein großer, schweigsamer Bruder, unheimlich und verlockend zugleich. Ein paarmal, war Hagen nahe daran, aufzugeben und sich in das große Vergessen hinübergleiten zu lassen, aber jedesmal war eine Kraft in ihm, die ihn wieder zurückriß, die ihn kämpfen ließ, zäh und voller Qual und fast gegen seinen Willen, und irgendwann, nach Tagen oder Stunden oder auch Wochen spürte er, daß er gewonnen hatte, daß sich die kalte Hand, die nach seinem Leben gegriffen hatte, zurückzog und die quälenden Fieberphantasien mehr und mehr dem Schlaf der Genesung wichen. Er träumte immer wieder den gleichen, fürchterlichen Traum, von dem jedoch nur Bruchstücke in seiner Erinnerung haftenblieben: einen Traum, in dem ein Reiter vorbeikam, ein goldener, in Flammen gehüllter Reiter auf einem gewaltigen Schlachtroß, kein Mensch, sondern ein Dämon, der aus den tiefsten Abgründen der Hölle emporgestiegen war, um das Menschengeschlecht zu verderben, aber auch ein Rabe, ein gewaltiger Todesvogel, dessen Gefieder wie geschwärztes Eisen glänzte und dessen Schreie den feurigen Reiter wie meckerndes Hohngelächter begleiteten, dann eine gesichtslose alte Frau und andere, schlimmere Dinge, die sich sein Verstand weigerte, im Gedächtnis zu behalten.
Irgendwann erwachte er. Er lag in einem weichen, kühlen Bett, nackt und nur mit einer doppelten Decke aus Schafs- und Bärenfell zugedeckt. Die Luft roch kalt, noch immer nach Schnee und Winter, aber er roch auch ein Feuer und spürte die trockene Hitze der Flammen auf der Haut, und irgendwo, sehr weit entfernt, waren Stimmen von Menschen. Er versuchte die Augen zu öffnen, aber es ging nicht. Ein straffer Verband bedeckte die linke Hälfte seines Gesichtes, und das andere Lid war verklebt.
Hagen stöhnte leise. Er zog den Arm unter der Decke hervor, aber selbst diese Bewegung kostete ihn Mühe, er fühlte sich schwach und kraftlos wie ein uralter Mann.
Er war nicht allein im Zimmer. Seine Bewegung löste wie ein verspätetes Echo leichte Schritte und das Rascheln von Stoff aus, dann beugte sich jemand über ihn - er spürte es, denn sehen konnte er noch immer nicht - und berührte ihn an der Schulter. Es war die Berührung sanfter, weicher Finger, die niemals ein Schwert geführt oder schwere Arbeit verrichtet hatten. Die Finger einer Frau. »Ohm Hagen? Seid Ihr wach? Könnt Ihr mich hören?« Hagen tastete nach ihrer Hand und drückte sie. Wieder versuchte er, die Augen zu öffnen, aber umsonst. Der Schmerz in seinem Schädel wurde schlimmer.
»Wartet. Ich helfe Euch.« Ein feuchtes Tuch berührte seine Stirn und fuhr behutsam über das verklebte Lid. Das kalte Wasser ließ seine Haut prickeln und betäubte für Augenblicke den Schmerz, der in seinem Kopf tobte. Er öffnete das rechte Auge, konnte jedoch noch immer nicht richtig sehen. Das ungewohnte Licht schmerzte, und Kriemhilds Gestalt war nur ein Schatten. Erst nach einer Weile erkannte er ihr Gesicht. »Tut es sehr weh?« fragte sie besorgt.
»Ja«, sagte er leise. »Aber ich habe schon Schlimmeres aushalten müssen.« Er hob die Hand und befühlte seine Stirn und den Verband. »Was ist... mit meinem Auge?« Das Sprechen fiel ihm schwer. Seine Zunge war trocken und geschwollen und fühlte sich wie ein Fremdkörper an, der nicht in seinen Mund gehörte und seinem Willen nur mangelhaft gehorchte.
»Ihr habt lange im Fieber gelegen, Ohm Hagen«, sagte Kriemhild, ohne auf seine Frage direkt einzugehen. Er wußte, daß sie es absichtlich vermied. »Der Wundscher sagt, Ihr müßtet eigentlich tot sein. Aber er wußte nicht, was für ein nordischer Starrkopf Ihr seid.« Sie versuchte zu lächeln; doch als sie sich über ihn beugte, sah Hagen Tränen in ihren Augen.
Vorsichtig drehte er den Kopf in den Kissen und sah sich um. Er war in Worms, dies bewies Kriemhilds Gegenwart, aber nicht in seiner Kammer.
»Ihr seid in meiner Kemenate«, sagte Kriemhild. »Es ist der wärmste Raum in der Burg, und so konnte ich immer in Eurer Nähe sein.«»Wie lange ... bin ich hier?« fragte er. »Vier Tage, seit Eurer Rückkehr.« »Und du warst... die ganze Zeit über hier?«
Kriemhild lächelte. »Nein. Wir haben abwechselnd an Eurem Lager gewacht. Ute, Dankwart, Giselher und sogar Gunther. Wir waren alle sehr in Sorge um Euch.« Sie stand auf. »Kann ich Euch einen Moment allein lassen? Ich möchte nach Gunther schicken, um ihm die frohe Kunde mitzuteilen.« Hagen nickte. Die Bewegung löste einen pochenden Schmerz hinter seiner Stirn aus, und er unterdrückte ein Stöhnen. Er hatte Durst, aber bevor er seiner widerspenstigen Zunge befehlen konnte, Kriemhild um einen Schluck Wasser zu bitten, war sie bereits aus dem Raum gegangen. Lange Zeit lag er still da, lauschte auf das Hämmern seines Herzens und versuchte Ordnung in seine Gefühle und Gedanken zu bringen. Aber es gelang ihm nicht Er erinnerte sich an alles, jede schreckliche Einzelheit der Schlacht, und doch kam es ihm vor, als wäre alles nur ein Traum, aus dem er noch nicht ganz erwacht war.
Nach einer Weile hörte er wieder Schritte, aber es war nicht Kriemhild und auch nicht Gunther. Es war ein grauhaariger, gebeugter Mann in einer einfachen, an eine Mönchskutte erinnernden braunen Robe. Er lächelte auf eine unpersönliche, flüchtige Weise und ließ sich nach kurzem Zögern auf den Rand von Hagens Lager sinken. Eine Weile sagte er nichts, sah Hagen nur schweigend an, und Hagen hatte Zeit, sein Gesicht zu betrachten. Es war ein schmales, asketisches Gesicht mit tief eingeschnittenen Falten und Runzeln. Seine Augen blickten traurig und wissend, und um seinen Mund lag ein bitterer Zug, als hätte er in seinem Leben viel Leid und Schmerz gesehen. »Wer seid Ihr?« fragte Hagen. Ein Lächeln zuckte um den Mund des Alten, aber seine Augen blieben ernst. »Mein Name ist Radolt«, antwortete er. »Ich bin Heilkundiger.« »Ich habe Euch ... noch nie hier in Worms gesehen.« »Das konntet Ihr auch nicht Ich komme von weit her, Hagen. Aus Xanten am Rhein. König Gunther hat seine Boten weit über Land geschickt und jeden gerufen, der sich auf die Heilkunst oder auch nur das Lindern von Schmerzen versteht. Es sind viele Verletzte in Worms. Und auch manchem Sterbenden sind die letzten Tage zu erleichtern«, fügte er leise hinzu.