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»Xanten?« fragte Hagen. »Ihr...«

»Ich bin der Leibarzt König Sigmunds«, sagte Radolt »Siegfried von Xanten sandte nach mir, als er sah, wie schwer verwundet Ihr wart, Herr. Ich habe Euch gepflegt, auf dem Weg hierher und die letzten vier Tage. Ihr erinnert Euch nicht?« Hagen verneinte.

»Nun, das macht nichts. Kriemhild sagte mir, daß Ihr wach seid. Ich konnte sie gerade noch davon abhalten, das halbe Schloß zusammenzutrommeln. Was Ihr jetzt vor allem braucht, ist Ruhe.«

»Ruhe?« Hagen lachte bitter. »Ich glaube, davon hatte ich genug.« »Ihr habt auf Leben und Tod gelegen«, erwiderte Radolt mit großem Ernst »Ihr habt acht Tage mit dem Tode gerungen, und es war ein Kampf, wie ich noch keinen gesehen habe. Nach all den Erfahrungen, die ich in meinem Leben gesammelt habe, müßtet Ihr tot sein.« »Dann vergebt mir, daß ich Euch enttäuscht habe«, murmelte Hagen. Radolt blieb ernst »Euer Körper hat sehr viel Kraft verbraucht, Hagen. Ihr müßt ihm jetzt Ruhe und viel Schlaf gönnen.« Er zögerte einen Moment, ehe er sich seufzend erhob. »Laßt mich nach Eurer Wunde sehen«, sagte er. »Der Verband muß erneuert werden. Es wird sehr weh hin.« Behutsam löste Radolt den Verband von Hagens Gesicht. Es tat weh, aber der Schmerz war weniger schlimm, als Hagen erwartet hatte. Schließlich spürte er, wie die letzte Lage des Verbandes von seinem Auge genommen wurde. Es gelang ihm, das Lid zu heben. Aber die linke Hälfte seines Gesichtsfeldes blieb leer. »Wie schlimm ist es?« fragte er.

Der Heilkundige fuhr behutsam mit den Fingerspitzen über Hagens Gesicht. Die Berührung hinterließ eine glühende Spur auf seiner Haut, aber Hagen gab keinen Laut von sich.

»Sehr schlimm«, antwortete Radolt nach einer Weile. »Das Schlimmste ist wohl überstanden. Aber es wird dauern. Ihr müßt Geduld haben.« »Wie lange?«

»Wochen, Monate - ich weiß es nicht. Eine Wunde ist schneller geschlagen als verheilt. Ihr müßt den Kräften der Natur schon Zeit lassen, den Schaden zu reparieren.« »Und das Auge?«

Radolt wich seinem Blick aus. Hagen packte sein Handgelenk. »Das Auge!«»Ihr seid ein tapferer Mann, Hagen«, antwortete Radolt leise. »Ihr werdet die Wahrheit ertragen, nicht?«

Hagen ließ seine Hand los. lief in sich hatte er es die ganze Zeit gewußt, aber er hatte es - wie so manches andere - nicht wahrhaben wollen. »Es ist blind«, murmelte er.

Radolt nickte. »Ja«, bestätigte er. »Ihr hattet trotz allem Glück, Hagen. Der Hieb hätte Euren Schädel spalten können. Aber... das Auge ist verloren.«

»Und Ihr... Ihr könnt nichts hin?«

»Nein«, sagte Radolt leise. »Es ist hart, aber je eher Ihr versucht, Euch mit der Wahrheit abzufinden, desto besser. Die Mittel, die uns Heilkundigen zur Verfügung stehen, sind begrenzt, Hagen. Im Grunde sind wir hilflos. Alles was wir vermögen, ist, die natürliche Heilkraft Eures Körpers zu unterstützen. Doch was zerstört ist, kann nicht mehr heilen.« Er hielt Hagen einen silbernen Becher hin. »Trinkt das«, sagte er. »Ich habe ein Pulver hineingemischt, das Euch schläfrig macht und Eurem Körper die Ruhe verschafft, die er braucht.«

Hagen wollte abwehren, aber Radolt war unerbittlich. Er setzte ihm den Becher an die Lippen wie einem störrischen Kind, und Hagen trank Schon der erste Schluck weckte seinen Durst erneut, und er leerte den Becher bis zur Neige.

Radolt nickte zufrieden. »Jetzt kann ich dem König erlauben, Euch zu sehen«, sagte er. »Aber nur für kurze Zeit Ihr dürft...« »Ich darf mich nicht anstrengen, ich weiß«, unterbrach ihn Hagen. »Warum habt Ihr nicht den Sachsen gesagt, daß sie mir gleich den Schädel einschlagen sollen?«

Radolt ließ nicht erkennen, ob er diese Bemerkung von der heiteren oder der ernsten Seite nahm. Er stand auf, verabschiedete sich mit einem angedeuteten Kopfnicken und ging. Hagen hörte ihn draußen auf dem Gang mit jemandem reden.

Kurz darauf betrat Gunther die Kemenate. Offensichtlich hatte ihm Radolt eingeschärft, daß Hagen äußerst schonungsbedürftig sei. Er kam ganz leise, auf Zehenspitzen näher, und auf seinem Gesicht lag ein betont fröhlicher Ausdruck Sachte trat er an Hagens Lager, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte ein paarmal den Kopf. »Hagen, Hagen«, sagte er tadelnd. »Ich fürchte, du änderst dich nie. Kaum läßt man dich eine Weile aus den Augen, hast du nichts Besseres zu hin, als dir den Schädel einschlagen zu lassen. Habe ich dir nicht befohlen, auf dich aufzupassen? Du kennst keinen Gehorsam gegenüber deinem König.« Er ließ sich, wie Radolt zuvor, auf der Bettkante nieder und griff nach Hagens Hand. »Wie fühlst du dich?«

»Nicht gut«, antwortete Hagen offen, und der heitere Ausdruck verschwand von Gunthers Gesicht »Aber ich habe schon Schlimmeres überlebt. In ein paar Tagen bin ich wieder auf den Beinen.« Gunther antwortete nicht, doch Hagen konnte nur zu gut in seinen Zügen lesen.

»Du brauchst mir nichts vorzumachen«, sagte er, um Gunther den Anfang zu erleichtern. »Radolt hat mir alles gesagt. Warum mußte es ein Heilkundiger aus Xanten sein?«

Gunther seufzte. »Weil er der Beste ist, Hagen«, antwortete er. »König Siegmund sandte ihn auf Siegfrieds Wunsch unverzüglich hierher, als er von deiner schweren Verwundung hörte. Es ... es tut mir leid.« Er wirkte hilflos, so daß Hagen Mitleid mit ihm hatte. »Aber die Hauptsache ist, daß du lebst und bald wieder gesund sein wirst« »Gesund?« Hagens Stimme klang bitter. »Ja«, murmelte er. »Gesund. Aber ich fürchte, du wirst dir einen neuen Waffenmeister suchen müssen, Gunther. Mit einem einäugigen Mann ist dir schwerlich gedient.« Gunther machte eine abwehrende Geste. »Du bist mit einem Auge noch immer besser als die meisten anderen mit zweien«, sagte er. »Aber was reden wir da. Du bist am Leben, und das allein zählt.« Seine Zuversicht klang jedoch nicht ganz überzeugend.

»Ich war lange bewußtlos«, murmelte Hagen. Er fühlte sich schläfrig, vielleicht tat der Trank den ihm Radolt eingeflößt hatte, seine Wirkung. Aber es gab ein paar Dinge, die er wissen mußte. »Was ist... geschehen? Ist der Krieg vorbei?«

»Das ist er«, bestätigte Gunther. »Und es ist viel geschehen, seit man dich zurückgebracht hat. Aber nichts davon ist so wichtig, als daß wir nicht auch später darüber reden könnten. Du bist gerade von den Toten auferstanden, weißt du das eigentlich? Und schon willst du wieder über den Krieg reden.«

»Nicht über den Krieg«, verbesserte Hagen. »Aber vielleicht über unsere Zukunft. Die Sachsen und Dänen...«

»Haben sich zurückgezogen«, unterbrach ihn Gunther. »Lüdeger und Lüdegast sind unsere Gefangenen, und ihre Heere sind auf dem Weg nach Hause oder haben sich in alle Winde zerstreut. Wir haben gesiegt, Hagen. Endgültig.«

»Aber um welchen Preis«, sagte Hagen bitter. Für einen Moment holten ihn die Bilder der Vergangenheit wieder ein, und in das Prasseln der Flammen im Kamin mischten sich das Getöse des Kampfes, das Geklirr von Waffen, die Schreie der Sterbenden. »Wie viele haben wir verloren?« Gunther senkte den Blick. »Viele«, sagte er leise. »Fast die Hälfte unseres Heeres.«

»Fast die Hälfte«, wiederholte Hagen. Der Gedanke weckte einen neuen, brennenden Schmerz in ihm. Die Schlacht hatte gar nicht richtig stattgefunden. Und doch war fast die Hälfte des burgundischen Heeres gefallen oder schwer verwundet.

»Aber das Opfer war nicht umsonst«, fuhr Gunther fort, als hätte er Hagens Gedanken gelesen. »Von nun an wird Friede herrschen. Wir haben nicht nur die Dänen und die Sachsen besiegt.« »Wir? Siegfried meinst du.«