»Herr!« rief er entsetzt. »Seid Ihr von Sinnen? Ihr dürft noch nicht aufstehen! Ihr...«
Hagen schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. Auf seinem geblendeten Auge war ein frischer Verband. Er hatte ihn selbst angelegt Seine Stirn war noch heiß, das machte die Wunde, aber das Fieber war gesunken und würde nicht zurückkommen. Davon war er überzeugt, denn er kannte seinen Körper. »Es ist gut, Radolt«, sagte er. »Ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, aber ich brauche sie nicht mehr.« Es dauerte einen Moment, bis der Heilkundige begriff. Sein Blick glitt an Hagens Kleidung herab, blieb an Helm und Schwertgurt hängen und heftete sich schließlich auf sein Gesicht. Er machte noch einen hilflosen Versuch, Einspruch zu erheben. Aber Hagen ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich reise noch heute ab«, sagte er. »Und ... wohin?« fragte Radolt leise. Hagen lächelte traurig. »Weit weg«, sagte er. »Weit weg, Radolt«
20
Die Eiche stand unverändert an ihrem Platz; ein stummer Wächter, der dem Ansturm der Zeit so gelassen trotzte wie der Fluß und die Berge an seinen Ufern, groß und knorrig geworden im Laufe der Generationen, aber ungebrochen, die Äste noch kahl, wie vor Jahresfrist, daß sie wie die schwarzen, dürren Finger einer Knochenhand nach dem tiefhängenden Himmel griffen. Hagen hatte lange gebraucht, die Stelle am Flußufer wiederzufinden, und die Sorge, sie zu verfehlen, hatte sich gepaart mit der Furcht, daß sie womöglich gar nicht existierte und nie existiert hatte. Doch dann war die Krone der Eiche wie ein vertrauter Wegweiser vor ihm aufgetaucht, und Hagen hatte sein Pferd zu einem letzten raschen Galopp gezwungen.
Als Hagen erschöpft am Fuße des Baumes anhielt, spürte er die Schläge seines Herzens bis in die Finger- und Zehenspitzen. Sein Blick suchte den Waldrand. Der Wald schien ihm jetzt, da die Luft klar war und kein Nebel zwischen den Bäumen wogte, finster und abweisend, nicht lockend wie damals, und noch einmal stieg die Furcht in ihm empor, daß alles nichts weiter als Einbildung gewesen sei.
Er verscheuchte den Gedanken, sprang aus dem Sattel und band den Zügel seines Pferdes um einen der untersten Äste des Baumes. Das Tier schnaubte erleichtert. Hagen streichelte flüchtig seinen Hals, wandte sich um und ging auf den Waldrand zu.
Das Unterholz schlug über ihm zusammen, und wieder zerrten die Zweige und rissen die Dornen an seinem Mantel. Hagen versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, welche Richtung er einschlagen mußte. Es gelang ihm nicht. Es war alles zu schnell gegangen damals. Er hatte auch nicht gedacht, jemals an diesen Ort zurückzukehren, und also nicht auf den Weg geachtet. Unschlüssig drehte er sich einmal im Kreis, ehe er dann in gerader Richtung vom Waldrand tiefer in das Unterholz eindrang. Wie beim ersten Mal verlor er bald die Orientierung. Der Wald war dunkel und dicht, obwohl sich gerade erst ein zaghafter Schimmer von Grün an den Zweigen zeigte. Im Sommer, wenn die Bäume voll im Laub standen, mußte es hier selbst um die Mittagsstunde finster wie in einer Gruft sein.
Hagen wußte nicht mehr, wie lange er schon im Wald umherirrte. Wie seinen Orientierungssinn verlor er jedes Gefühl für die Zeit. Das Gehen fiel ihm schwerer und schwerer. Die Anstrengung trieb ihm trotz der Kälte den Schweiß auf die Stirn, und der Schmerz in seinem Auge drohte ihm den Schädel zu sprengen. Er wußte längst nicht mehr, wo er war, und er hätte wohl auch nicht wieder aus dem Wald herausgefunden, selbst wenn er es gewollt hätte. Nach einer Weile hörte er ein Bellen und blieb stehen.
Das Bellen verstummte, und es herrschte wieder Stille, nur durchbrochen vom Atmen des Waldes; dann hörte er es wieder, lauter und näher als beim ersten Mal. Hagen stellte fest, daß es anders klang als das gewöhnliche Bellen eines Hundes; eher so, als versuchte ein Wolf wie ein Hund zu bellen, dachte er schaudernd.
Er lauschte einen Moment, um den Laut zu orten, änderte seine Richtung ein wenig und ging weiter. Das Bellen wiederholte sich nicht, aber Hagen wußte jetzt, daß er auf dem richtigen Weg war, und beschleunigte seine Schritte. Das Gelände wurde immer unwegsamer, und Hagen kam immer mühsamer voran; mehr als einmal glitt er auf dem morastigen Waldboden aus, stürzte oder konnte sich gerade noch an einem Baum festhalten. Seine Kleider waren zerrissen und verdreckt, als sich das Unterholz endlich vor ihm teilte und die kleine sichelförmige Lichtung vor ihm lag. Hagen blieb keuchend stehen, rang nach Luft und stützte sich schwer gegen einen Baum.
Die Kate war noch da. Nichts hatte sich seit seinem ersten Hiersein verändert; alles war ganz genauso: der Stapel Brennholz neben der Tür, der Laden vor dem einzigen Fenster, der schief in den ledernen Angeln hing. Selbst der Rauch, der aus der Fensteröffnung quoll, schien derselbe zu sein.
Hagen verscheuchte den unheimlichen Gedanken, der ihn beschlich, und ging schnell weiter. Als er sich dem Haus bis auf wenige Schritte genähert hatte, löste sich ein dunkler Umriß aus dem Schatten der Kate und versperrte ihm knurrend den Weg. Es war Ferais, der Hund, dessen Bellen ihm den Weg gewiesen hatte, aber anders als bei ihrer ersten Begegnung erschien er Hagen jetzt wie der sagenumwobene Götterwolf: ein mächtiges, schwarzes, struppiges Tier, das sich ihm drohend in den Weg stellte und sein furchteinflößendes Gebiß zeigte. Hagen senkte die Hand und näherte sie dem Schwertgriff. Das Knurren des Hundes wurde drohender, und Hagen sah, daß die schwarze Bestie drauf und dran war, sich auf ihn zu stürzen. Die Tür des Hauses wurde aufgestoßen, die Alte trat heraus. »Fenris!« sagte sie scharf. »Geh auf deinen Platz! Und Ihr, Hagen von Tronje, seid kein Narr, und nehmt die Hand vom Schwert. Fenris hätte Euch zerrissen, ehe Ihr die Waffe gezogen hättet.« Hagens Hand zuckte zurück, Fenris knurrte noch einmal, warf ihm einen letzten, warnenden Blick aus seinen grundlosen schwarzen Augen zu und trollte sich. Hagen stand unbeweglich, bis der Hund um die Hausecke verschwunden war. Er war ganz sicher, daß das Vieh größer und wilder ausgesehen hatte als das letzte Mal. Mit gemischten Gefühlen folgte er der Alten ins Haus.
Auch im Inneren der Hütte hatte sich nichts seit seinem ersten Besuch verändert. Das einsame Bett, die Truhe und der Tisch mit den zwei niedrigen Hockern; und das Feuer im Herd erschien ihm noch immer viel zu klein, um wirklich wärmen zu können. Nur der silberne Thorshammer gegenüber der Tür fehlte; das einfache Holzkreuz der Christen hing jetzt allein an der Wand.
»Schließt die Tür«, befahl die Alte. »Und dann sagt mir, warum Ihr gekommen seid.«
Hagen gehorchte und schloß die Tür, aber als er sich wieder umdrehte, wurde ihm schwindelig. Der Schmerz in seinem Schädel erwachte zu neuer, noch heftigerer Wut und ließ ihn aufstöhnen. Er wankte, griff haltsuchend um sich und wäre gestürzt, wäre die Alte nicht rasch hinzugesprungen, um ihn aufzufangen. Willenlos ließ er sich zum Tisch führen und sank auf einen Hocker. Der Raum begann sich um ihn zu drehen. »Ihr seid ein Narr, Hagen«, sagte die Alte, »und ein Kindskopf dazu. In Eurem Zustand hierherzukommen!«
Hagen wollte antworten, aber er konnte nicht. Der Schmerz bohrte sich durch sein Auge bis tief in seinen Schädel, er löschte jeden Gedanken und jede Erinnerung aus, bis nichts anderes mehr existierte als Schmerz; ein Schmerz, schlimmer als alles, was Hagen je erlebt hatte. Es dauerte lange, bis der Anfall vorüber war. Danach fühlte er sich ausgebrannt und schwach.