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Unmerklich ging eine Veränderung mit Hagen vor. Bisher war er ein Held gewesen, ein Mann aus Stahl, der nicht gebeugt, sondern höchstens zerbrochen werden konnte. In Zukunft würde er das nicht mehr sein. Es waren nicht die Wunden, die sein Körper davongetragen hatte - die würde er verschmerzen, so oder so; und es war nicht einmal das Gefühl der Niederlage, mit dem er sich noch immer nicht abfinden konnte, es vielleicht nie ganz lernen würde.

Er hatte einen Blick in eine andere Welt getan. Das war es, was die Veränderung bewirkte. Es hatte mit seiner Begegnung mit Helge begonnen, vor einem Jahr, dann war Alberich gekommen und Siegfried mit seinem Dutzend unirdischer Reiter, und schließlich die Alte, deren Worte mehr als nur ein böses Omen waren. Mit jedem Mal hatte sich der Vorhang, der die Welt der Menschen von der der Götter und bösen Geister trennte, ein wenig mehr gehoben, hatte ihm das Schicksal einen winzigen Ausschnitt eines anderen, vollkommen fremden Seins gezeigt, einer Welt, die neben der der Menschen existierte und so erschreckend und fremd war, daß der bloße Gedanke, sie könne wirklich sein, ihn an den Rand des Wahnsinns trieb. Er hatte nie wirklich an jene Welt geglaubt. Er hatte nur eine vage Vorstellung vom Wirken der Götter, von guten und bösen Mächten gehabt, nicht aus Überzeugung, sondern aus Gewohnheit, aber er hatte nicht an sie geglaubt als an etwas, was tatsächlich existierte. Jetzt wußte er es besser.

Und die Erkenntnis führte eine zweite, weit schlimmere im Geleit - ein Gedanke, der einem seiner Fieberträume entsprungen sein könnte, es aber nicht war. Wenn er die Existenz der Götter als wirklich annahm, nicht als bloße Vorstellung, so mußte er auch andere, schlimmere Erscheinungen als Tatsache akzeptieren. Dann mußte er akzeptieren, daß Siegfried vielleicht wirklich das war, was er während der Schlacht gegen die Sachsen und Dänen in ihm zu sehen geglaubt hatte. Und wenn es so war, dann mußte alles, was er, Hagen, tat, vergebens sein, denn er war trotz allem nur ein Mensch, und wenn sich die Sterblichen gegen die Götter erhoben, dann stand der Ausgang dieses Kampfes von vornherein fest. Er wußte, daß es so war. Er wußte, daß sich die Prophezeiung der Alten erfüllen würde. Das Geschlecht der Gibikungen würde untergehen, und alles, was er erreichen konnte, war, die Leiden des Unterganges noch zu verlängern. Wie die Alte gesagt hatte: ganz gleich, was er tat, es war falsch. Er befand sich in der Lage eines Mannes, der vor der Wahl stand, einen Freund zu opfern, um den anderen zu retten, und er wußte, daß seine Entscheidung Unheil und Leid heraufbeschwören würde, ganz gleich, wie sie ausfiel.

Sein Entschluß reifte, während er dalag und sein Körper sich langsam zum zweiten Mal vom Fieber erholte und neue Kräfte gewann. Es war ein langer und schmerzhafter Prozeß, aber am Ende erkannte er, daß ihm nur diese einzige Möglichkeit blieb. Sie würden ihn für einen Feigling halten, auch wenn niemand es aussprach, einen Mann, der sich wie ein Dieb in der Nacht davonschlich, weil er nicht den Mut hatte, zu seinem Wort zu stehen, aber vielleicht war es besser, sie verachteten ihn, als daß sie ihn haßten.

Er würde gehen. Er würde warten, bis er stark genug war, eine zehntägige Schiffsreise zu überstehen, dann würde er gehen. Er würde nicht dasein, wenn Siegfried um Kriemhilds Hand anhielt und Gunther sich mit hilfesuchendem Blick an ihn wandte und seinen Rat verlangte. Es war noch viel Zeit bis zum Pfingstfest, Zeit genug, gesund zu werden und zu gehen, still und ohne großes Aufsehen. Und wenn der Tag kam, an dem Kriemhild und Gunther die Entscheidung von ihm verlangten, eine Entscheidung, die, ob so oder so, einem von ihnen Unglück und vielleicht den Tod bringen würde, würde er nicht mehr da sein, sondern dort, wo er hingehörte und wo sein Platz war: in den eisigen weißen Einöden seiner Heimat. In Tronje.

22

Erst am dreizehnten Tag nach seiner Rückkehr ließ Radolt zum ersten Mal wieder einen Besucher zu ihm. Während der ganzen Zeit hatte er keinen vertrauten Menschen gesehen; keinen außer Radolt selbst und zwei oder drei Knechten, die ihm geholfen hatten, Hagen, solange er selber zu schwach dazu war, mehrmals am Tage zu säubern und frische Laken auf sein Bett zu legen. Der greise Heilkundige hatte nicht einmal Kriemhild zu ihm gelassen, obgleich sie zahllose Male an die Tür der Kemenate geklopft und Einlaß verlangt hatte. Hagen war Radolt dankbar dafür gewesen; er hatte diese Zeit gebraucht, um zu gesunden und um mit sich selbst ins reine zu kommen.

Gunther wirkte besorgt, als Radolt ihn an Hagens Bett führte und sich mit der geflüsterten Ermahnung, nur einige Augenblicke zu bleiben, zurückzog. Hagen sah das Erschrecken in seinen Augen, als Gunthers Blick auf sein Gesicht fiel. Radolt hatte - zufällig oder mit Absicht - alle spiegelnden Gegenstände aus dem Zimmer geschafft, und Hagen hatte sein eigenes Antlitz seit zwei Wochen nicht gesehen. Aber was ihm seine Fingerspitzen sagten, war genug. Seine Wangen waren eingefallen, und seine Haut war trocken und rissig wie die eines alten Mannes. Er war nicht nur innerlich um zehn Jahre gealtert in diesen vierzehn Tagen. »Geht es dir besser?« fragte Gunther, als sie allein waren. Hagen nickte, ohne den Kopf aus den Kissen zu heben. »Ja«, sagte er leise. »Ginge es mir nicht besser, dann würdest du wohl an meinem Grab stehen, Gunther.«

»Eine Zeitlang sah es so aus, als müsse ich das wirklich«, sagte Gunther scharf. »Radolt hatte in den ersten Tagen die Hoffnung beinahe schon aufgegeben, weißt du das?« »Er ist ein guter Arzt«, sagte Hagen.

»Der beste, den es gibt«, fiel ihm Gunther erregt ins Wort. »Hagen, wolltest du dich umbringen? Begreifst du nicht, in welcher Sorge wir alle um dich waren, nachdem du einfach fortgeritten warst? Ich habe an die hundert Reiter ausgeschickt, um dich zurückzuholen, aber sie haben dich nicht gefunden.« Er schüttelte den Kopf. »Kriemhild hat sich fast die Augen ausgeweint, und Giselher wollte Radolt und den Stallknechten die Kehlen durchschneiden, weil sie dich gehen ließen. Wo bist du gewesen?«»Giselher?« sagte Hagen, rasch die Gelegenheit nutzend, um das Thema zu wechseln. »Er war in Sorge um mich? Nach unserer letzten Begegnung hatte ich eher den Eindruck, daß er mich haßt.« Gunther schwieg einen Moment verwirrt, dann wischte er Hagens Bemerkung mit einer unwilligen Handbewegung fort »Unsinn, Hagen«, sagte er. »Du weißt so gut wie ich, wie sehr Giselher dich verehrt.« »Trotz allem, was ich ihm nach der Schlacht gesagt habe?« »Wofür hältst du meinen Bruder, Hagen?« fragte Gunther vorwurfsvoll. »Er ist noch ein halbes Kind, aber er ist nicht dumm. Er weiß sehr gut, warum du das getan hast. Er ist dir dankbar dafür, auch wenn er es niemals zugeben würde.«

Hagen nickte erleichtert. Er hatte Giselher nicht gesehen, seit sie nach Worms zurückgekehrt waren, aber er hatte oft an ihn gedacht, und die Frage, ob er wirklich richtig gehandelt hatte, hatte ihn gequält. »Was ist in Worms geschehen, während ich hier gelegen habe?« fragte er leise. Er hatte Durst. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über seine trockenen, vom Fieber rissigen Lippen. Gunther stand auf und holte ihm einen Becher Wasser und ließ ihn trinken, ehe er sich wieder setzte und antwortete. »Nichts von Bedeutung.« Er lächelte gequält »Worms ist keine Burg mehr, sondern ein Lager voll Verletzter und Kranker. Aber es wird besser von Tag zu Tag.« Er seufzte, legte den Kopf gegen die geschnitzte Lehne des Stuhles und fuhr sich mit der Hand über Kinn und Lippen, eine Geste der Erschöpfung und Müdigkeit, die seine Worte Lügen strafte. Hagen fiel auf, daß er wieder die Ringe trug. Und es war sogar ein neuer hinzugekommen. »Es sind viele gestorben«, fuhr er fort, »aber die, die jetzt noch am Leben sind, werden gesunden oder sind es schon. Wir haben jeden herbeigerufen, der sich auf das Heilen von Wunden versteht« Er lachte. »Selbst ein paar heidnische Priester, zu Pater Bernardus' Entsetzen.«