Hagen sah ihn überrascht an, und Gunther fuhr sichtlich erheitert fort: »Ich dachte mir, daß dir der Gedanke Vergnügen bereitet. Bernardus und seine Priester haben vor Entsetzen hundert Ave Marias extra gebetet, und ihr Groll wird mich wohl noch auf Jahre hinaus verfolgen. Aber ich ertrage ihn gerne, wenn auch nur einer von meinen Kriegern durch deren Hand gerettet würde.« »Es sind auch Sachsen hier«, sagte Hagen.
Gunther nickte. »Und Dänen. Ich schickte meine besten Krieger aus, um sie zu erschlagen, und jetzt rufe ich nach den besten Männern und Frauen, sie zu heilen. Manchmal glaube ich, die ganze Welt steht kopf.« Er setzte sich etwas bequemer auf dem harten Holzstuhl zurecht und fuhr mit veränderter Stimme fort »Wenn das Pfingstfest kommt, wird alles vergessen sein.« Gunthers Blick ruhte eindringlich auf ihm. »Du mußt gesund werden, Hagen. Ich brauche dich.«
»Mich?« antwortete Hagen spöttisch. »Wer braucht schon einen Krüppel wie mich? Ein König wie du am allerwenigsten.« »Ein König wie ich am allermeisten«, erwiderte Gunther ernst. »Das stimmt nicht, Gunther«, widersprach Hagen ruhig. Er hob lächelnd die Hand und deutete auf das verbundene Auge. »Das war kein Zufall, Gunther«, fuhr er fort. »Ich werde keine Schlachten mehr für dich schlagen können. Du wirst dir einen neuen Waffenmeister suchen müssen.« »Wer spricht von Schlachten?« fragte Gunther leise. »Überlaß das Kämpfen Männern wie Siegfried oder meinem hitzköpfigen Bruder. Ich habe deinen Waffenarm gerne genommen, solange du ihn mir angeboten hast und er stark genug war, Worms zu verteidigen.« »Das ist er nicht mehr.«
»Aber was ich wirklich brauche«, fuhr Gunther unbeirrt fort, »ist dein Verstand, Hagen. Worms braucht ihn, und ich brauche ihn, weit mehr, als ich jemals dein Schwert gebraucht habe.« Er beugte sich vor und drückte sanft Hagens Hand unter der Decke. »Im Augenblick herrscht Ruhe im Land, und unsere erste Sorge gilt dem Fest in drei Wochen und der Bewirtung und Unterbringung all der Gäste, die wir geladen haben. Aber du weißt so gut wie ich, daß es nicht so bleiben wird. Es werden neue Feinde auftauchen und neue Probleme, zu deren Lösung ich Rat und Hilfe brauchen werde. Deinen Rat und deine Hilfe, Hagen. Wenn die Zeit gekommen ist, will ich dich an meiner Seite haben.« Hagen antwortete nicht gleich. Siegfrieds Worte fielen ihm ein: In Wahrheit seid Ihr es, der Worms beherrscht ... Begriff Gunther denn nicht, was er da sagte? dachte Hagen erschrocken. Hatte er denn nie begriffen, daß er mehr tat, als sich an einen Freund um Hilfe zu wenden: daß er sich auslieferte? Daß er Hagen die Verantwortung für ein Reich aufbürdete, das nicht das seine war, und ihn zwang, eine Last zu tragen, die das Schicksal auf Gunthers Schultern gelegt hatte? »Ich werde es ... versuchen«, sagte er stockend. »Nicht versuchen«, widersprach Gunther. »Du wirst es tun, Hagen. Vergiß dein Selbstmitleid und werde wieder zu dem Hagen, den ich kenne und brauche.« Es klang wie ein Befehl. »Du bist verwundet worden, und du hast ein Auge verloren, aber wenn dein Blick nicht mehr scharf genug ist, dann muß dein Geist um so schärfer sein. Du wirst gesund werden und wieder an meiner Seite sitzen, und wenn ich dich dazu zwingen müßte.« Er stand auf, goß sich einen Becher Wein ein und trat ans Fenster. Lange Zeit blickte er schweigend auf den Hof hinab. Seine Finger spielten unbewußt mit dem Becher, aber er trank nicht »Ich werde Lüdegast und Lüdeger nach Hause schicken, wenn das Fest vorüber ist«, sagte er schließlich. »Mit all ihren Männern.« Hagen sah überrascht auf. »Einfach so?« fragte er. Gunther nickte. Er drehte sich zu ihm um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Brüstung. Die Sonne schien hell durch das Fenster, und seine Gestalt wurde zu einem dunklen flachen Umriß vor dem Blau des Himmels. Hagen blinzelte.
»Sie haben mir Geld geboten«, fuhr Gunther mit einem bitteren Unterton fort. »Ein Goldstück für jeden unserer Krieger, der in der Schlacht gefallen ist, und eine Wagenladung Silber und Edelsteine für ihrer beider Leben.«
»Nimmst du es an?« fragte Hagen.
Gunther nippte an seinem Wein, setzte den Becher vorsichtig auf der Fensterbrüstung ab und ließ sich wieder in den Stuhl sinken. »Natürlich nicht«, sagte er. »Bin ich ein Krämer, den man nach Belieben kaufen kann? Sie bleiben als unsere Gäste, bis die Siegesfeier vorüber ist und Lüdegast sich soweit erholt hat, daß er die Heimreise antreten kann.« »Wie schwer ist er verwundet?« erkundigte sich Hagen. »Sehr schwer«, sagte Gunther nach einer kurzen Pause. »Er wird nie wieder richtig gesund werden. Auf dem Thron des Dänenreiches wird in Zukunft ein Schwachsinniger sitzen. Auf jeden Fall wird er nie wieder die Hand nach anderen Ländern ausstrecken. Und sein Bruder wohl auch nicht. Siegfried hat mehr getan, als sie in der Schlacht zu schlagen.« Er sprach nicht weiter, aber Hagen spürte, daß er jetzt zu dem Punkt gekommen zwar, auf den von Anfang an alles hingezielt hatte. Siegfried. »Du weißt, daß er auf dem Pfingstfest um Kriemhilds Hand anhalten wird?« fragte Gunther. Hagen spürte, wie ihm das Blut in die Schläfen schoß, seine Wunde schmerzhaft zu pochen begann. »Er hat es dir ... gesagt?« fragte er stockend.
Gunther lächelte spöttisch. »Natürlich nicht. Wie könnte er, wo sie sich doch noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen haben.« Sein Blick wurde lauernd, und er wartete darauf, daß Hagen auf seinen Spott einging. Aber Hagen schwieg. »Manchmal glaube ich, daß dieser blonde Hüne nichts anderes ist als ein Kind, das sich zufällig in den Körper eines Giganten verirrt hat«, fuhr Gunther seufzend fort. »Natürlich hat er nichts gesagt, so wenig wie Kriemhild. Aber sie scheinen zu vergessen, daß ich noch immer König dieser Stadt bin. Es geht nichts vor in Worms, von dem ich nicht auf die eine oder andere Weise erfahre.« Er stand auf, um seinen Becher zu holen, setzte sich wieder und trank in langsamen Zügen. Plötzlich lachte er auf. »Was soll ich tun, Hagen?« sagte er. »Soll ich mich freuen, weil sie mich unterschätzen, oder soll ich zornig sein, weil Siegfried und meine eigene Schwester offensichtlich meinen, sie könnten mich zum Narren halten?« »Was wirst du tun?« fragte Hagen statt einer Antwort. »Tun?« Gunther zuckte hilflos mit den Schultern. »Was bleibt mir schon übrig, Hagen? Ich kann nichts tun. Ich kann Siegfried die Hand meiner Schwester nicht abschlagen, ohne ihn tödlich zu beleidigen. So, wie die Dinge liegen, hat er den Krieg für uns gewonnen. Ich weiß natürlich«, fügte er hastig hinzu, als Hagen auffahren wollte, »daß das nicht stimmt. Aber leider zählt der Schein oft mehr als die Wahrheit.« Er gab einen sonderbaren Laut von sich, ein verunglücktes Lachen. »Wen interessiert schon die Wahrheit, Hagen? Siegfried war es, der unser Heer gegen die Sachsen und Dänen geführt hat. Und er war es, der als Sieger heimkehrte und die feindlichen Könige als seine persönliche Kriegsbeute mitbrachte. Wie kann ich nein sagen, wenn er den Preis dafür verlangt? Was soll ich tun? Einen Krieg heraufbeschwören, kaum daß wir den einen überstanden haben? Worms ist ausgeblutet, Hagen, nach dieser Schlacht. Wir haben kein Heer mehr, das ich gegen den Nibelungen führen könnte. Und ich glaube nicht einmal, daß sie mir folgen würden«, fügte er düster hinzu. »Wie meinst du das?« fragte Hagen leise.