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»Du weißt nicht, was seit eurer siegreichen Rückkehr in der Stadt und im Land vorgegangen ist«, sagte Gunther tonlos. »Siegfried hat mehr getan, als die Sachsen zu schlagen. Er hat sich in die Herzen der Menschen geschlichen, in alle - außer vielleicht in deines und meines. Die verwundeten Krieger beten ihn an, wenn er sie am Krankenlager besucht, und die Menschen unten in der Stadt jubeln ihm zu, nicht mir. Er kann Kriemhild haben, wenn er sie will.« »Und Worms.«

»In gewissem Sinne hat er es schon«, murmelte Gunther. »Wie kann ich um etwas kämpfen, was mir gar nicht mehr gehört? Von tausend Kriegern würden mir keine hundert gehorchen, wenn ich ihnen befehlen würde, das Schwert gegen Siegfried zu ziehen. Und nicht nur, weil sie Angst vor ihm hätten.« »Dann gibst du auf?« fragte Hagen.

Wieder bekam er ein bitteres Lachen zur Antwort. »Aufgeben? Nein. Ich werde gegen ihn kämpfen, mit aller Macht Aber ich werde es nicht mit dem Schwert tun, denn das wäre ein Kampf, den ich nicht gewinnen könnte.«

Er hielt inne und fuhr dann fort, mehr zu sich selbst. »Ich habe darüber nachgedacht, die ganze Zeit, seit ihr an der Spitze des Heeres fortgeritten seid. Ich habe zu Gott gebetet, und ich habe auch die alten Götter angefleht, ihn in der Schlacht fallen zu lassen, aber ich wußte, daß es nicht geschehen würde. Ich wußte, daß er als Sieger wiederkehren würde, und ich wußte auch, daß er nicht nur die Sachsen, sondern auch mich damit schlagen würde. Vielleicht wirst du mich verachten für das, was ich tun muß, aber mir bleibt keine Wahl. Soll er Kriemhild haben. Soll er sie nehmen und mit ihr in sein Nibelungenreich ziehen.« »Dann verkaufst du deine Schwester?«

Gunther nickte. »Ja. Das entsetzt dich, nicht? Aber wem wird damit geschadet? Kriemhild, die ihn liebt? Siegfried, der sich vielleicht mit ihrer Hand zufrieden gibt und nicht mehr nach Worms greift? Den Kriegern, die nicht in einem weiteren sinnlosen Kampf sterben müssen?« »Dir«, antwortete Hagen ernst. »Dir und der Krone, die du trägst, Gunther. Dein Vater hat dir das Reich nicht als Erbe hinterlassen, damit du...«

»Schweig«, unterbrach ihn Gunther, nicht sehr laut, aber sehr entschieden. »Ich weiß, was du sagen willst, und ich will es nicht hören. Es gibt keine Beweisgründe, die ich nicht selbst schon erwogen und verworfen hätte.« »Und deine Selbstachtung?«

»Selbstachtung!« Gunther lachte schrill. »Wie ich sie hasse, diese Worte. Ehre und Ruhm und Selbstachtung. Geh hinunter und sieh dir die Verwundeten an, Hagen. Geh in die Stadt und in die Dörfer und besuche die Frauen, die um ihre Männer und Väter weinen, und dann erzähle ihnen etwas von Ruhm und Ehre. Sie werden dich anspucken, und sie haben recht damit. Es ist noch nicht lange her, daß ich Lüdegasts Angebot, mich freizukaufen, abschlug, aus Gründen der Ehre und Selbstachtung, Hagen. Fünfhundert unserer Männer sind tot, damit meine Ehre nicht be schmutzt wird. Das ganze Land liegt blutend darnieder, während wir hier in der Stadt die Vorbereitungen für eine große Siegesfeier treffen. Ich hätte damals schon nachgeben und den Schandpreis zahlen sollen, den der Sachse forderte. Vielleicht hätten sie mich einen Feigling genannt, aber das tun sie doch sowieso, hinter vorgehaltener Hand und wenn sie glauben, ich würde es nicht hören. Was hat es mir gebracht, Hagen? Ruhm?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ruhm hat es Siegfried gebracht, nicht mir, und nicht einmal dem Reich. Unsere Männer sind gestorben, um Siegfrieds Götterglanz noch ein wenig heller erstrahlen zu lassen, und mich halten sie immer noch für einen Schwächling. Vielleicht bin ich es auch.«

»Das stimmt nicht, Gunther«, sagte Hagen sanft, aber Gunther fiel ihm ins Wort.

»Es stimmt«, beharrte er zornig. »Du weißt es, und ich weiß es. Ich habe diese Krone nicht gewollt, aber man hat sie mir aufgezwungen, und ich muß damit leben.«

Er brach ab, sichtlich erschöpft, und strich sich mit der Hand über die Augen. »Nein, Hagen«, fuhr er fort. »Mein Entschluß steht fest Ich habe zu oft nach den Regeln der Ehre gehandelt, und es ist zuviel Schaden dabei herausgekommen. Ich werde Siegfried geben, was er verlangt, und meinem Reich Frieden und Ruhe damit erkaufen. Sollen mich spätere Generationen verachten. Besser, sie halten mich für einen Feigling als für den Mann, der Burgund in den Untergang geführt hat« »Er wird sich nicht damit zufrieden geben, Gunther«, sagte Hagen. »Er wird gehen und Kriemhild mit sich nehmen, aber er wird wiederkommen, und er wird weitere Forderungen stellen. Du wirst weiter auf dem Thron von Worms sitzen, aber der wahre Herrscher wird Siegfried heißen.« »letzt heißt er Hagen«, sagte Gunther leise. Hagen erstarrte. »Du...« - - - »Es ist doch so«, murmelte Gunther. »Wir wissen es beide seit Jahren, Hagen. Wir haben nur so getan, als wüßten wir es nicht. Aber ich will nicht mehr lügen.« Einen Moment lang saß er noch in dumpfem Brüten da, dann stand er auf. Seine Züge strafften sich. »Ich muß gehen, Hagen«, sagte er. »Ein König hat niemals Zeit, das weißt du ja. Und dein grauhaariger Wachhund frißt mich bei lebendigem Leibe, wenn ich zu lange bleibe oder dich aufrege.« Hagen wollte sich hochstemmen, aber Gunther drückte ihn in die Kissen zurück »Du wirst liegenbleiben und tun, was der Arzt dir sagt«, sagte er streng. »Ich lasse es nicht noch einmal zu, daß du dich selbst in Gefahr bringst Schlimmstenfalls lege ich dich in Ketten.« Er lächelte noch einmal zum Abschied, wandte sich um und ging.

Hagen starrte ihm noch lange hinterher. Das Gefühl der Hilflosigkeit und Verwirrung in seinem Inneren steigerte sich zur Qual. Er hätte erleichtert sein müssen, daß ihm die Last der Entscheidung abgenommen war, aber er war es nicht Im Gegenteil.

Erst als Radolt ihn sanft an der Schulter berührte und ihm einen Becher mit bitter schmeckender Medizin an die Lippen setzte, merkte er, daß er nicht mehr allein war.

23

Die Zeit zog sich quälend langsam dahin. Hagen gesundete, aber es war ein langwieriger, mühevoller und schmerzvoller Prozeß, bei dem er die Unzulänglichkeit seines Körpers bald zu hassen begann. Er mußte wieder gehen lernen wie ein Kind. Die Augenblicke, in denen er sich wünschte, in der Schlacht gefallen zu sein und einen ehrenvollen Tod gefunden zu haben, statt auf diese - wie er es nannte - schmachvolle Art dahinzuvegetieren, häuften sich. Mehr als einmal sprach er zu Radolt darüber, aber der Heilkundige antwortete stets nur mit einem berufsmäßigen Lächeln oder tat so, als hätte er seine Klagen nicht gehört. Aber er erholte sich, wenn auch hundertmal langsamer, als er sich gewünscht, und zehnmal langsamer, als er es gewohnt war. Allmählich erlangte er etwas von dem verlorenen Gewicht zurück, und im gleichen Maße, in dem sich sein Körper erholte, gesellte sich die Langeweile an sein Lager. Bald kannte er jede Fuge im Zimmer, jede Maserung des Fußbodens, jede Linie in den Balken der Decke, und der immer gleiche Blick aus dem Fenster auf den Hof hinunter begann ihm unerträglich zu werden. Erst eine Woche vor dem Pfingstsonntag verließ er zum ersten Mal wieder die Kemenate. Als er auf den Hof hinaustrat, vorsichtig und mit kleinen schlurfenden Schritten, den rechten Arm um die Schulter seines Bruders gelegt und die linke Hand auf den Arm Ortweins gestützt, hatte er das Gefühl, zum ersten Mal seit Wochen wieder frei atmen zu können. Kriemhilds Kemenate war einer der größten und sicher der behaglichste Raum in der Burg, dennoch erschien sie ihm mit einemmal wie ein trostloses, enges Gefängnis angesichts der Weite des Himmels, der in makellosem Blau erstrahlte, und des Schimmers von Grün, mit dem ihn der Frühlingstag begrüßte. Die Luft roch gut und war sehr klar, und goldenes Sonnenlicht ergoß sich in verschwenderischer Fülle über den Hof und verwandelte die Helme und Schilde der Wachen oben auf den Zinnen in flüssiges Gold. Er bedeutete seinem Bruder mit einem kurzen Druck der Hand, stehenzubleiben, löste behutsam seinen Arm von Dankwarts Schultern und stand, wenn auch schwankend und mit zitternden Knien, aus eigener Kraft.