»Geht es?« fragte Ortwein. Das fröhliche Jungenlächeln, das er an seinem Neffen immer am meisten gemocht hatte, war auf Ortweins Züge zurückgekehrt, aber seine Stimme klang ernst, und sein Blick verriet Sorge. Hagen nickte, löste vorsichtig auch die andere Hand von Ortweins hilfreich dargebotenem Arm und atmete in tiefen Zügen ein. Die Luft war noch kühl, und der Wind stand so, daß er den Geruch des Wassers vom Rhein mit sich in die Burg hinaufbrachte; Hagen genoß jeden einzelnen Atemzug, und für eine Weile gab er sich einfach dem Gefühl hin, wieder unter freiem Himmel zu sein. Dem Gefühl, wieder zu leben. Das Kitzeln der Sonnenstrahlen auf dem Gesicht zu spüren und den harten Stein des Hofes unter den Stiefelsohlen. Was war er für ein Narr gewesen, sein Leben so einfach wegwerfen zu wollen l »Du darfst dich nicht überanstrengen«, sagte Dankwart, als Hagen sich wieder auf ihn stützte und langsam über den Hof ging. »Denk an die Worte des Arztes.«
»Überanstrengen?« Hagen lächelte. »Keine Sorge - ich habe nicht vor, auszureiten.«
»Das könntest du auch nicht«, erwiderte Dankwart »Gunther hat den Stallknechten bei Todesstrafe verboten, dir ein Pferd zu geben.« Hagen zog es vor, nicht darauf zu antworten, sondern konzentrierte sich ganz darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen und das offenstehende Tor anzusteuern. Er fühlte sich auf sonderbare, beinah wohltuende Art kraftlos und matt, aber das Gehen ermüdete ihn nicht, sondern schien ihm im Gegenteil etwas von seiner verlorenen Kraft wiederzugeben; es war, als kehrte das Leben Schritt für Schritt in seinen Körper zurück Nach ein paar Schritten löste er die Hand vom Arm seines Bruders und ging aus eigener Kraft weiter. Erst vor dem Tor blieb er stehen und sah sich um. Worms kam ihm verändert vor, aber er vermochte nicht zu sagen, woran es lag. Erst nach einer geraumen Weile wurde ihm klar, was es war: es war zu still. Auf den Mauern patrouillierten Wachen, aber es waren zu wenige, kaum die Hälfte der Männer, die selbst in Friedenszeiten wie jetzt dort oben sein sollten, und auch das emsige Treiben, das so selbstverständlich zum Anblick des Hofes gehörte wie die graubraunen Mauern und die Fahnen Burgunds, erschien ihm weniger lebhaft als sonst. Alle Geräusche klangen gedämpft.
»Was ist ... geschehen?« fragte er stockend und so, als fürchte er die Antwort.
»Was geschehen ist, Ohm Hagen?« Ortwein warf einen Blick durch das offenstehende Tor auf die Stadt hinab, ehe er antwortete. »Worms hat geblutet, das ist geschehen. Es ist jetzt weniger schlimm als noch vor Tagen - Gunther hat die Verwundeten, die jetzt noch darniederliegen, in die Stadt hinunterschaffen lassen, damit sie die Festvorbereitungen nicht stören.«
Hagen erschrak. »Aber das ist doch nicht möglich«, sagte er mit einer Geste zu den Wehrgängen hinauf. »Diese Männer hier können doch nicht alle sein, die unversehrt geblieben sind!«
»Natürlich nicht«, sagte Dankwart an Ortweins Stelle. Hagen bemerkte, daß er seinem Neffen einen warnenden Blick zuwarf und fast unmerklich den Kopf schüttelte. »Die anderen sind in der Stadt, um den Ärzten und Priestern zu helfen, und viele sind übers Land geritten, Vorräte für das Fest zu kaufen, Spielleute und Gauklervolk zu rufen oder Einladungen zu überbringen.«
Das letzte klang wie Hohn in Hagens Ohren, und er glaubte zu spüren, daß es auch so gemeint war. Hagen hatte schon vorher aus verschiedenen Bemerkungen entnommen, daß längst nicht jeder in Worms mit dem Fest einverstanden war, das Gunther auszurichten gedachte. Ein Sieg verlangt eine Feier, aber Hagen gewann immer mehr den Eindruck, daß Gunther ein wenig über das Angemessene hinausschoß. Es waren nicht nur die Herrscher der Reiche geladen worden, die mit Burgund im Bunde standen, sondern alle Könige und Edlen im Umkreis von fünf Tagesritten; mehr als dreißig, wenn sich Hagen recht entsann. Er spielte mit dem Gedanken, Dankwart und Ortwein zu bitten, ihn in die Stadt hinunterzubegleiten, tat es aber dann doch nicht, weil er wußte, daß er jeden Schritt, den er jetzt zuviel tat, später zehnfach bereuen würde. Und er mußte gesund werden, so schnell wie möglich. Gesund genug, um die Reise nach Tronje anzutreten. Hagen hatte außer mit Dankwart mit niemandem über sein Vorhaben, Worms - wenigstens für eine Weile - zu verlassen, gesprochen. Er hätte viel darum gegeben, die Heimreise noch vor der Pfingstfeier anzutreten, aber das konnte er nicht Und er mußte es auch nicht mehr. Nicht jetzt, wo ihm die Entscheidung abgenommen worden war, vor der er fast in den Tod gerannt wäre, nur um sie nicht fällen zu müssen.
»Laß uns zurückgehen, Hagen«, sagte Dankwart leise. »Es ist genug für das erste Mal.« Er legte Hagen sanft die Hand auf die Schulter. Hagen streifte seine Hand ab. »Behandle mich nicht wie einen Greis«, sagte er zornig. »Es ist nicht das erste Mal, daß ich verwundet wurde.« Dankwart antwortete nicht, aber er hielt seinem Blick stand, und was Hagen in seinen Augen las, gefiel ihm nicht Was war das? Hatten sich alle verändert? Oder war er es, der nicht mehr der gleiche war? »Dort sind Lüdeger und Lüdegast«, sagte Ortwein hastig, um das stumme Duell zu unterbrechen. Hagen folgte seinem Blick und gewahrte/ die beiden königlichen Brüder am entgegengesetzten Ende des Hofes. Ihr Anblick erschreckte ihn. Sie trugen noch immer Kleider, die ihrem Stand angemessen waren: kostbare Wämser und Hosen aus feinster Seide und sorgsam gegerbtem Leder, dazu prachtvoll bestickte Umhänge, die jedoch das Wappen von Burgund zeigten, nicht ihrer eigenen Reiche. Aber davon abgesehen hatten sie nichts Königliches mehr an sich. Lüdegast stützte sich schwer auf den Arm seines Bruders Lüdeger, und um seine Stirn lag ein frischer weißer Verband. Er ging sonderbar schleppend und vornübergebeugt, und hätte ihn Lüdeger nicht gestützt, hätte er sicher nicht die Kraft gehabt, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. »Laßt uns zu ihnen gehen«, sagte Hagen. Dankwart sah ihn erstaunt an, und Hagen fügte mit einem schmerzlichen Lächeln hinzu: »Vielleicht können wir Krüppel unter uns ein gemütliches Schwätzchen halten.« Dankwart schien das nicht sehr lustig zu finden, aber wieder verbiß er sich die Antwort, die ihm sichtlich auf den Lippen lag, und geleitete Hagen nach kurzem Zögern über den Hof.
Lüdeger blieb stehen, als er ihr Herankommen bemerkte. Auch er hatte sich verändert, auf fast noch erschreckendere Weise als sein Bruder. Er war noch immer ein Bär von einem Mann und überragte Hagen und seine Begleiter um mehr als Haupteslänge. Trotzdem schien er irgendwie kleiner geworden zu sein. Es war nicht die Kraft seines Körpers, die aus ihm gewichen war, sondern die innere Stärke, das Feuer, das in ihm gebrannt hatte und ihn befähigt hatte, König zu sein. Es war ein geschlagener Mann, dem Hagen gegenüberstand, gebrochen für alle Zeiten. Ist es das, dachte Hagen, und Grauen packte ihn - ist es das, was denen geschieht, die sich Siegfried in den Weg stellen?
Siegfried hatte Lüdegast und Lüdeger das Leben geschenkt Und doch hatte er sie getötet, auf seine Weise. Vielleicht wäre es gnädiger gewesen, er hätte sie auf dem Feld erschlagen.
Aber Hagen ließ sich nichts von all dem anmerken. Er neigte in einer angedeuteten Verbeugung das Haupt.
Lüdeger erwiderte den Gruß, während sein Bruder nur stumpf vor sich hinstarrte und seine Finger sich ein wenig fester in den Stoff von Lüdegers Ärmel krallten. Sein Blick war leer und seine Züge sonderbar schlaff und ohne Halt. Hagen schauderte. Er hatte nicht gewußt, daß Gunther die Wahrheit sprach, als er sagte, daß auf dem Thron der Dänen in Zukunft ein Schwachsinniger sitzen würde. Nun wußte er, warum Dankwart gezögert hatte, ihn hierherzuführen.