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»Eine Woche?« Dankwart runzelte die Stirn.

»Wartet bis zum Pfingstfest«, sagte Hagen, »und ihr werdet verstehen, was ich meine. Es gibt eine Möglichkeit, Siegfried Einhalt zu gebieten. Und ich werde es tun, und wenn es das letzte wäre, was ich in meinem Leben vollbringe.«

24

Durch das Fenster wehte der Klang der Glocken herein, und wenn man genau hinhörte, konnte man zwischen den metallischen dumpfen Schlägen das Raunen einer großen Menschenmenge vernehmen, die sich auf dem Platz vor dem Münster versammelt hatte, die engen Straßen der Stadt füllte und lange bunte Arme wie ein gewaltiges Tier bis zum Burggraben und über die Brücke bis in den Burghof hinaufstreckte. Worms platzte aus allen Nähten vor Menschen, und es waren nicht nur die Bewohner der Stadt und der umliegenden Dörfer, die Gunthers Einladung gefolgt waren, sondern Hunderte und Aberhunderte, die aus weitem Umkreis herbeigeströmt waren, mit den Burgundern den Sieg über die vereinten Heere der Sachsen und Dänen zu feiern. Hagen wandte sich mit einem Seufzer vom Fenster ab und griff nach seinem Mantel, der ordentlich zusammengefaltet über dem Stuhl neben seinem Bett hing. Er hatte eine Stunde oder länger am Fenster gestanden und auf das Treiben im Hof hinuntergeblickt, ohne sich darüber klargeworden zu sein, welches der beiden widerstreitenden Gefühle in seinem Inneren das stärkere war. Zum einen hatte er das Pfingstfest herbeigesehnt und ungeduldig die Stunden gezählt, bis es endlich soweit war; zum anderen hatte er dem Tag mit banger Erwartung, ja mit Furcht entgegengesehen.

Es war der zweite Tag der kirchlichen Pfingstfeiern, und die Glocken des Münsters unten in der Stadt riefen zum vorletzten Male zum Gebet; die ersten beiden der insgesamt zwölf Tage, über die sich das Fest erstreckte, gehörten dem christlichen Gott, und das Gaukler- und Spielmannsvolk, das in einem Lager aus Zelten und zu Kreisen zusammengestellten Wagen unten am Fluß zusammengekommen war, würde erst heute spät am Abend Gelegenheit haben, seine Künste vorzuführen. Hagen war froh gewesen, seinen geschwächten Zustand zum Vorwand nehmen zu können, dem Fest während des ersten Tages fernzubleiben. »Seid Ihr bereit, Radolt?« fragte er.

Der grauhaarige Alte blickte von der Schriftrolle auf, über die er seit zwei Stunden gebeugt saß und so tat, als würde er darin lesen. Er deutete ein Nicken an und erhob sich. Es hatte Hagen viel Überredungskunst gekostet, Radolt dazu zu bewegen, ihn zum Münster hinabzubegleiten; wie er hing Radolt nicht dem christlichen Glauben an und betrat niemals eine Kirche. Es war Hagen nicht gelungen, mehr darüber aus ihm herauszubekommen. Er vermutete aber, daß er und der Heilkundige sich in diesem Punkt ähnelten und Radolt im Grunde seines Herzens wohl gar keinen echten Glauben hatte; oder allerhöchstens den an einen gesichts- und namenlosen Gott der Grausamkeit und Härte. Wie auch anders, nachdem er sein Leben damit verbracht hatte, geschlagene Wunden zu heilen und Menschen eines gewaltsamen Todes sterben zu sehen. »Ich bin bereit, Herr«, sagte Radolt und griff nach seinem Umhang. Er war schwarz wie Hagens Mantel, aber glatt und schmucklos. Schlug er die dazugehörige Kapuze hoch, ähnelte er mehr einem Mönch als einem Arzt. »Wenn Ihr es auch seid.«

»Es gefällt dir nicht, wie?« fragte Hagen, während er vorsichtig seinen Helm überstreifte und mit den Fingerspitzen über die schwarze Augenklappe fuhr, die er jetzt anstelle des Verbandes trug. Von Zeit zu Zeit schmerzte die Narbe noch, und wie Radolt ihm gesagt hatte, würde sie das auch bis ans Ende seines Lebens tun; insbesondere vor einem Wetterumschwung oder bei strenger Kälte. Aber dieser Schmerz war erträglich. »Du würdest lieber hierbleiben.«

Radolt antwortete nicht, sondern wandte sich mit einem stummen Achselzucken ab, wie er es stets getan hatte in den vergangenen drei Wochen. Er war nicht von Hagens Seite gewichen und hatte ihn aufopfernd gepflegt, aber er war jedem Versuch Hagens, ein persönliches Wort an ihn zu richten, ausgewichen. Hagen wurde nicht recht klug aus ihm. Es war sehr warm, als sie auf den Hof hinaustraten. Das Raunen der Menge war hier deutlicher zu hören als oben, und Hagen konnte die heiter-gelöste Stimmung spüren, die von den Menschen Besitz ergriffen hatte. Radolt bot ihm den Arm, um ihn zu stützen, als sie die Treppe hinuntergingen, aber Hagen schlug seine Hilfe aus und ging aus eigener Kraft, wenn auch langsam und sehr vorsichtig. Ein paar Blicke wandten sich ihm zu, hier und da wurde eine Hand zum Gruß erhoben, und er sah lächelnde Gesichter, aber er sah auch, wie sie die Köpfe zusammensteckten und zu tuscheln begannen, wenn sie glaubten, er sähe es nicht Er wünschte sich, ihre Gedanken lesen und die geflüsterten Worte verstehen zu können. Wahrscheinlich würde man ihn ab nun den Einäugigen nennen, und das Netz aus düsteren Geschichten, das sie um ihn spannen, würde damit noch ein wenig dichter werden. Sie überquerten den Hof, traten aus dem Tor und gingen langsam den Weg zur Stadt hinab. Die schmale Straße war überfüllt mit Menschen, und; der Regen, der mit dem Frühjahr ins Land gezogen war, hatte die Wieset rechts und links des gepflasterten Weges morastig werden lassen, so daß Hagen das Gehen doppelte Mühe bereitete. Als sie den Festplatz erreichten und das Münster vor ihnen auftauchte, war er fast versucht, Radolts Angebot, sich auf ihn zu stützen, doch noch anzunehmen, aber natürlich tat er es nicht. Niemand in Worms würde erleben, daß sich Hagen von Tronje auf einen Greis stützte, weil er nicht mehr die Kraft hatte, allein zu gehen. Die Menge wich respektvoll auseinander, als er den Platz betrat und sich dem Sitz des Königs näherte. Die Zimmerleute hatten längs des gepflasterten Gevierts große, hölzerne Podeste mit Sitzbänken errichtet, immer acht oder zehn stufenförmig versetzt übereinander, so daß auch die zuhinterst Sitzenden einen guten Blick auf den Platz hatten. Alles war mit bunten Girlanden geschmückt Mehr als drei Dutzend verschiedene Wimpel flatterten im Wind, der vom Rhein heraufwehte, und die Männer und Frauen, die auf den Bänken Platz genommen hatten, boten ein farbenfrohes Bild. Hagen sah die Wappen der Städte und Burgen, die mit Worms in Freundschaft verbunden waren, und dazu noch andere, auf die dies nicht unbedingt zutraf.

Vor ihnen war ein wogendes Meer von Köpfen, aber Gunthers Thron war trotzdem deutlich sichtbar - er stand auf einem eigenen Podest zwischen den Plätzen der Gäste. Rechts und links davon schloß sich eine Reihe niedrigerer Stühle an, auf denen der Hofstaat von Worms Platz nahm. Die Edlen waren noch nicht vollzählig versammelt, manche mochten auch bereits im Münster sein, obgleich die Messe noch nicht begonnen hatte und die Glocke weiter nach den letzten säumigen Betern rief; kaum die Hälfte der Plätze war besetzt, und auch Gunther selbst war nirgends zu sehen.

Radolt zögerte, als Hagen die Stufen zum Podest hinaufging und eine einladende Geste machte, und es war deutlich, daß er sich nicht sehr wohl in seiner Haut fühlte.

»Nun komm schon«, sagte Hagen. »Du hast mein Leben gerettet, sogar zweimal. Der Platz an meiner Seite steht dir zu.« Rings um sie herum erreichte das Treiben langsam seinen Höhepunkt Der Platz füllte sich weiter mit Menschen, aber gleichzeitig mehrte sich das Blitzen von Helmen und Speerspitzen zwischen den buntgekleideten Gästen, und nach und nach schufen die Wachen einen breiten, schnurgeraden Korridor quer über den Münsterplatz, der bis vor die Stufen der Kirchentreppe führte. Die Tore des Münsters standen jetzt weit offen, aber die Wachen sorgten dafür, daß nur wenigen, sorgsam ausgewählten Gästen Zutritt zu dem Gotteshaus gewährt wurde; das Münster war nicht groß genug, auch nur den zehnten Teil der Menge aufzunehmen, die auf dem Platz versammelt war. Später, wenn die Könige und Edlen unter den Gästen ihr Gebet verrichtet und den Segen empfangen hatten, würde ein zweiter Gottesdienst unter freiem Himmel stattfinden, an dem teilnehmen mochte, wer wollte.