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Hagen begann sich unruhig umzusehen. Er spürte, daß er angestarrt wurde, und zum ersten Mal in seinem Leben machte es ihn nervös. Immer wieder glitt sein Blick zur Festung hinauf und blieb auf dem offenstehenden Burgtor haften.

Endlich erschien Gunther. Sein Kommen wurde von einem weithin schallenden Hornsignal angekündigt, das die wartende Menge auf dem Platz zum Verstummen brachte, wenn auch nur für einen Augenblick, um sie sodann in um so lebhaftere Erregung zu versetzen. Die Wachen verbreiterten mit unsanften Speer- und Schildstößen hastig die Schneise, die sie quer über den Platz gebahnt hatten, und ein zweiter, länger anhaltender Hornstoß erklang, als Gunther an der Spitze seines Hofstaates auf den Münsterplatz ritt.

Selbst Hagen war für einen Moment von der Erscheinung Gunthers beeindruckt Der König der Burgunder ritt ein kräftiges, einfach aufgezäumtes Schlachtroß, dessen einziger Schmuck ein dünnes silbernes Stirnband war. Er trug weder Schild noch Schwert, und um seine Schultern lag kein kostbarer Prunkumhang, wie ihn seine Begleiter und die meisten seiner Gäste trugen, sondern der einfache rote Mantel der burgundischen Reiterei. Auf seinem Haupt saß die dünne sechsstrahlige Krone von Worms, und als einziges Schmuckstück trug er an diesem Tage eine dünne Silberkette mit einem kaum fingerlangen, ebenfalls aus Silber gearbeiteten Kreuz. Von dem guten Dutzend Reiter, an deren Spitze er ritt, war er am schlichtesten gekleidet, und trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - war er in diesem Moment mehr denn je ein König. Im stillen zollte ihm Hagen Respekt für seinen Entschluß, all den aufgehäuften Prunk und Pomp, der in diesen Tagen in Worms zur Schau getragen wurde, nicht noch übertreffen zu wollen, sondern das Gegenteil zu tun und sich damit um so wirkungsvoller abzuheben. Gunther ritt in gemessenem Tempo bis zur Mitte des Platzes, verhielt sein Pferd und blickte - ein wenig übertrieben - hoheitsvoll in die Runde, ehe er sich aus dem Sattel schwang und wartete, bis ihm ein Knecht die Zügel seines Pferdes abgenommen und das Tier davongeführt hatte. Nacheinander saßen auch seine Begleiter ab, allen voran Giselher und Gernot. Die Hochrufe und der Jubel, der sie begrüßte, hielten sich in Grenzen, und Hagen mußte sich in Erinnerung rufen, daß das Fest bereits anderthalb Tage währte und der Anblick der drei königlichen Brüder und ihres Gefolges für das versammelte Volk nichts Neues mehr war. Und obgleich Gunther jetzt gekommen war, lag noch immer eine spürbare Erwartung in der Luft.

Hagen stand auf, trat die wenigen Stufen vom Podest herab und erwartete Gunther und seine beiden Brüder stehend, und auch die Gäste auf den Ehrentribünen beiderseits des Platzes erhoben sich, bis Gunther auf Armeslänge vor Hagen stehengeblieben war und mit der Hand ein Zeichen gab. »Freund Hagen«, sagte er, ein wenig steif und laut genug, daß jedermann auf dem Platz seine Worte vernehmen konnte. »Wie freuen wir uns alle. Euch wieder gesund und bei Kräften unter uns zu sehen.« Hagen neigte das Haupt, sank kurz vor dem König ins Knie und berührte seine Rechte mit den Lippen. Gunther ließ es geschehen, aber in seinen Augen blitzte es spöttisch, als sich Hagen wieder erhob und ihn ansah.

»Kommt, Hagen von Tronje«, sagte Gunther. »Begleitet Euren König bis vor das Tor des Gotteshauses, das zu betreten Ihr Euch noch immer weigert.« Hagen, der darauf nicht vorbereitet war, wandte sich zögernd um und schritt an Gunthers Seite auf das weit offenstehende Tor des Münsters zu. Giselher und Gernot folgten ihnen dicht auf, während der Rest des Hofstaates respektvoll fünf Schritte Abstand hielt, bis sie die Treppe erreicht hatten und Gunther auf halber Höhe stehenblieb. Hagens Blick begegnete dem Blick von Pater Bernardus, der in seiner schwarzen Kutte unter dem Kirchenportal stand und die Gäste einzeln begrüßte. Zwischen den Brauen des Priesters erschien eine tiefe Falte. Hagen hatte sich niemals ernsthaft Gedanken über ihr Verhältnis gemacht Aber ihm war klar, daß der Geistliche eine gewisse Bedrohung in ihm sehen mußte. Ein Mann von Hagens Position und Einfluß, der kein Freund der Kirche war, mußte in ihren Augen ihr Feind sein. Einen Moment lang war Hagen versucht, an Gunthers Seite das Münster zu betreten, und sei es nur, um zu sehen, wie Bernardus reagierte. Aber natürlich würde er es nicht tun. Er hatte schon zu viele Feinde, um sich noch mit einem so mächtigen Gegner wie dem Christengott anzulegen; oder mit denen, die behaupteten, seinen Willen zu predigen.

Gunther berührte ihn am Arm, und Hagen drehte sich um und blickte über den Platz zurück. Siegfried kam. Das hieß, verbesserte sich Hagen, er kam nicht, er erschien. Vorhin, als Gunther auf den Münsterplatz geritten war, hatte Hagen sich einen Augenblick lang gewundert, ihn nicht in Begleitung des Xanteners zu sehen; jetzt, als er den Herrscher des Nibelungenreiches an der Spitze seiner zwölf Gefolgsleute auf den Platz reiten sah, begriff er, warum Siegfried allein kam.

Was Gunther sich an königlicher Einfachheit gestattet hatte, das überbot Siegfried zehnfach an Prunk Er ritt ein gewaltiges, strahlendweißes Schlachtroß, in dessen Mähne und Schweif dünne goldene Bänder eingeflochten waren und dessen Hufe im Sonnenlicht blitzten, als wären sie aus reinem Silber. Sattelzeug und Geschirr waren aus feinstem, weiß eingefärbtem Leder gearbeitet, und passend dazu und zu seinem Roß war auch Siegfried selbst vollständig in Weiß gekleidet. An seinem linken Arm hing ein fast mannsgroßer dreieckiger Schild, auf dem die Krone Xantens und der Drache des Nibelungenreiches prangten, und selbst die Scheide des Balmung, der an seinem Gürtel hing, war mit einer Hülle aus kostbarem weißem Leder überzogen. Sein Mantel floß weit über die Kruppe seines Pferdes dahin, weiß wie seine übrige Kleidung und wie der Schild mit dem Abbild eines sich windenden Lindwurms verziert; eine Stickerei in Gold und Silber, wie sie Hagen noch nie zuvor in solcher Kunstfertigkeit erblickt hatte. Seine blonden Locken waren unter einem wuchtigen Helm mit Nacken- und Stirnschutz verborgen, dessen hochgeklapptes Visier die Form eines Drachenkopfes hatte. Auf der Brust des Nibelungen hing ein Kreuz, wie auch Gunther eines trug, aber anders als das des Burgunderkönigs war es so groß wie Siegfrieds Hand und aus Gold, mit kostbaren Edelsteinen besetzt. Und um seine Erscheinung noch zu unterstreichen, war das Dutzend Reiter, das ihn begleitete, ganz in Schwarz gekleidet, und auch ihre Pferde hatten die Farbe der Nacht, als wären sie allesamt der Schatten, den ihr Herr warf. Vielleicht waren sie es. »Beeindruckend, nicht?« raunte Gunther, nur für Hagens Ohren bestimmt. Giselher vind Gernot hätten es wohl auch nicht gehört, hätte er lauter gesprochen, denn beide waren völlig in den Anblick Siegfrieds versunken und starrten wie gebannt auf ihn und seine zwölf Begleiter hinab. Hagen blickte einen Moment in Giselhers Gesicht und sah genug. Die Augen des jungen Königs brannten; er fieberte vor Erregung. »Er weiß sich zur Geltung zu bringen, unser junger Freund«, fuhr Gunther fort. »Ich hoffe nur, er behält seine Fassung auch so vorbildlich, wenn er die Antwort auf die Frage bekommt, die er mir stellen wird.« »Hat er Kriemhild schon gesehen?« flüsterte Hagen. Gunther verneinte mit einem leichten Schütteln des Kopfes. Dann bedeutete er Hagen, beiseite zu treten, und wich selbst zur anderen Seite der Treppe zurück. Auch Giselher und Gernot traten rasch zur Seite. Gunthers Wink hatte nicht dem Zweck gedient, Platz für Siegfried zu schaffen. Als Hagen den Kopf wandte und wieder zum Portal hinaufblickte, sah er, daß auch Pater Bemardus zur Seite gewichen war und das Haupt gesenkt hatte. Hinter ihm trat eine schmalschultrige kleine Gestalt aus dem Gotteshaus und blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. Es war Kriemhild. Sie trug ein schmuckloses graues Gewand aus schimmernder Seide. Ihr Gesicht war hinter einem dünnen, von einer bronzenen Spange gehaltenen Schleier verborgen, und wie Gunther trug sie als einziges Schmuckstück ein kleines silbernes Kreuz auf der Brust Der Xantener hatte sein Pferd bis zehn Schritte vor die Treppe gelenkt und war abgesessen. Reglos wartete er, bis einer der Diener ihm Zügel und Schild abnahm, trat einen Schritt vor und hob die linke Hand, und in einer einzigen Bewegung schwangen sich auch seine zwölf Begleiter aus den Sätteln. Hagen fühlte seltsame Beklemmung, als sich das Dutzend schwarzgekleideter Riesen zu einem geschlossenen Halbkreis hinter ihrem Herrn formierte. Unwillkürlich mußte er an den Abend vor der Schlacht gegen die Dänen denken, als Siegfried außerhalb des Lagers mit ihm gesprochen hatte. Obwohl die Situationen grundverschieden waren, war doch etwas Vergleichbares daran. Damals wie heute hatte Siegfried die Hand ausgestreckt, damals in dargebotener Freundschaft zu Hagen, jetzt in Demut zu Gunther. Und damals wie heute ballte er die andere zur Faust. Hagen schauderte. Seine Hand tastete ungewollt zum Gürtel und suchte das Schwert, aber seine Seite war leer, so wie die Gunthers und Giselhers und aller anderen. Außer den Wachen und dem Dutzend Reitern aus Gunthers Leibgarde, die sich beiderseits der Treppe zu einer stummen Ehrenwache aufgestellt hatten, waren Siegfried und die Seinen die einzigen, die Waffen trugen.